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Die Architektur Brasílias ist einzigartig und wert, besucht zu werden. Nirgendwo sonst wurde der Beton in eine derartige Leichtigkeit und Eleganz gegossen wie in der Hauptstadt Brasiliens.

Foto: Ludovic Maisant / Hemis / Corbis

Am 21. April des Jahres 1960 beging Brasília sein erstes großes Fest. Das zog sich über drei Tage hin und war für die unzähligen Bauarbeiter ausgerichtet, die Brasiliens neue Hauptstadt in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft hatten.

Drei Jahre hatten sie dafür gebraucht. Drei lächerliche Jahre. Zu Zehntausenden waren sie aus allen Ecken und Enden dieses unendlich scheinenden Landes gekommen, um beim Bau mitzuhelfen, um Teil dieses historischen Ereignisses zu werden. Damals führten noch keine befestigten Straßen auf das Hochplateau in der geografischen Mitte Brasiliens, das auch ansonsten gottverlassen und leer unter der großen südamerikanischen Sonne lag.

Rote Erde. Hitze untertags. Kälte in der Nacht. In der Trockenzeit eine Staubwüste. Eine einzige Schlammgrube in den Monaten des Regens. Die Menschen kamen trotzdem. Sie erreichten das neue Zentrum ihrer 1889 gegründeten und somit immer noch jungen Nation auf unasphaltierten, holprigen Pfaden.

Sie kamen zu Fuß, auf Mauleseln, auf Lastwägen und Pferden. Sie waren nicht selten ein paar tausend Kilometer unterwegs gewesen. Brasilien ist groß, flächenmäßig fast so groß wie Europa.

Von genau diesen ehemaligen europäischen Kolonialherren wollte man sich endgültig befreien - mit einem symbolischen Akt, mit einer neuen Art der Architekturmoderne und einer einmaligen, nie dagewesenen, aus dem Nichts des Reißbretts entstandenen Stadt.

Am 21. April dieses Jahres begeht Brasília wieder ein Fest. Diesmal wird es nur einen Abend, eine Nacht dauern. Dennoch: Ein halbes Jahrhundert soll gefeiert werden. 50 Jahre Brasília. Man erwartet einige Größen der MPB, der Música Popular Brasileira, sowie jegliche Gouverneure und aktuellen Polittitanen. Gewaltige Reden werden geschwungen, Shows gezeigt und Tänze aufgeführt werden. Die Stimmung in Brasília scheint gut zu sein, zumindest wenn man den Zeitungen und Journalen Brasiliens Glauben schenken mag. Die Situation der Bewohner der Hauptstadt wird durchwegs als besser als sonst wo in Brasilien beschrieben, mit weit weniger Verkehrsstaus beispielsweise als in São Paulo oder Rio, mit einem kulturellen Angebot, das als vorzüglich gilt, wenngleich die Bewohner vom Rest der Nation doch als eher langweilig und beamtisch eingestuft werden.

13 Quadratmeter Shoppingfläche pro Person deuten zumindest statistisch auf eine ordentliche Kaufkraft hin, die nicht allein von der Belegschaft der diplomatischen Vertretungen von 90 Nationen herrühren kann, auf die Brasília stolz verweist.

Noch eine Statistik zum Drüberstreuen gefällig? Die gewaltige Fahnenstange vor dem Nationalkongress ist 100 Meter hoch. Die Nationalflagge, die sie trägt, misst 280 Quadratmeter: Ordem e Progresso, Ordnung und Fortschritt.

So weit, so gut. Zugleich schreibt sich aber das internationale Feuilleton mit intellektueller Brillanz hinweg über ein Brasília, das als politisches Experiment gescheitert sei, und das als architektonisches Wagnis zwar in die Geschichte eingehe, jedoch ebenfalls eine Niederlage darstelle mitsamt seinem schillernden Architekten, dem bis heute bekennenden Kommunisten Oscar Niemeyer.

Wie spielerisch leicht und einfach es doch ist, aus der Ferne zu urteilen. Brasília, dieses bombastische Experiment, so heißt es oft, sei ein grotesker Fehlschlag und eine Verirrung der Ingenieurskunst. Eine absurde Fingerübung eines größenwahnsinnigen Architekten, der seiner Selbstverwirklichung im brasilianischen Interior, dem Hinterland der ansonsten an den Küsten lebendigen Nation, gehuldigt habe. Kann es sein, dass die Dinge so einfach doch nicht liegen?

Um all die Kritik an der Kritik zu präzisieren, muss man das heutige Brasília betrachten, und das besteht tatsächlich aus drei Städten: aus der ursprünglichen Reißbrettstadt in der Mitte, die für lediglich ein halbe Million Menschen geplant worden war; aus den umliegenden Satellitenstädten, in denen mittlerweile zwei Millionen Menschen leben; und drittens aus den in den vergangenen Jahren dazwischen entstandenen Zonen der informellen Siedlungen, den Favelas, die sich in einem Bereich festgesetzt haben, der eigentlich hätte freigehalten werden sollen von baulichen Substanzen aller Art.

Die überwältigende städtebauliche Masse stellen die Satellitenstädte rund um das eigentliche Brasília, und die sind in der Tat von jener grauenhaften architektonischen Beliebigkeit, wie wir sie auch von den nicht minder widerlichen Speckgürteln kennen, die die schönen alten Städte Europas in unheilvoller Umklammerung halten. Bestes Beispiel: Barcelona. Schöne Altstadt, brutalkapitalistische Sanierung, Absiedelung der ärmeren Bevölkerung in nur entsetzlich zu nennende Satellitenstädte des Umlandes.

Barcelona gilt in Kritikerkreisen als architektonisches Eldorado Europas. Doch welches Brasília wird von denselben Feuilletonisten eigentlich kritisiert?

Für die Entwicklung der Stadt sind jedenfalls weder Brasiliens Präsident von 1956 bis 1961 und Erfinder Brasílias, Juscelino Kubitschek, verantwortlich zu machen, noch sein Masterplaner Lúcio Costa oder Oscar Niemeyer, sein Architekt.

Denn was die klugen Kritiker der Formen und Architekturen gerne vergessen, ist der Lauf der politischen Geschichte: Kubitschek, Costa und Niemeyer planten ab 1957 eine betont sozial gerechte Stadt. Sie versuchten es, zum Teufel nocheinmal, zumindest, was man von heutigen Stadtplanungen im seltensten Fall behaupten kann. In den Wohnvierteln, Superquadras genannt, sollten alle sozialen Schichten unter einem Dach leben, mit angeschlossenen Kindergärten und Schulen, mit Ladenzeile und Kirche.

Brasílias Wohnbau-Architektur entsprach dem voll. Die großen Wohngebäude, die kaum je ins Rampenlicht gerückt werden und neben den Architektur-Ikonen des Präsidentenpalastes, des Kongresses und der Kathedralen ein vergleichsweise unbeachtetes Schattendasein führen - zumindest in der Architekturkritik -, sind tatsächlich ausgesprochen kluge Konstrukte. Mit unterschiedlichsten Grundrissen in angenehm aufgestelzten, vom Boden gehobenen Strukturen. Gemeinschaftsräume inklusive. Jedenfalls die Idee eines Wohnbaus für eine neue Kultur, eine neue, wenn man will, gerechtere Gesellschaft.

1964 putschte das Militär, die Diktatoren übernahmen Brasília, die Superquadras wurden privatisiert, die Ärmeren konnten sich die Wohnungen nicht mehr leisten und zogen in neu entstehende Vororte.

Die Idee Brasílias wurde pervertiert, die großen Plätze und Areale für Militärparaden genutzt. So hatten sich das weder der Präsident noch seine Planer vorgestellt.

Wichtiger als Architektur, so pflegt Oscar Niemeyer in seinem Atelier an der Copacabana in Rio bis heute zu sagen, sei das Leben der Menschen, der Wille, die Gesellschaft zu verändern. Kubitschek und Niemeyer gingen nach dem Militärputsch beide ins Exil, kehrten aber später nach Brasilien zurück. Niemeyer ist im vergangenen Jänner 103 Jahre alt geworden. Er ist der letzte Lebende unter den großen Architekten der Moderne. Der kleine Brasilianer war unter all den vielgehuldigten Giganten dieser nicht immer zu Recht so glorifizierten Epoche, von der wir langsam genug Abstand haben sollten, um all ihre Produkte zu verklären, mit Sicherheit der Talentierteste.

Corbusiers Verehrer mögen aufschreien, mögen alle möglichen Gebäude des großartigen Schweizers hervorkramen und in die Waagschale werfen. Dennoch: Niemeyer bleibt der unerreichte König der fließenden betonenen Form, er bleibt der Überwinder der Schwerkräfte, der Leichtfüßigste von allen.

Die Architektur Brasílias mag bröckeln da und dort. Sie bleibt atemberaubend. Es gibt mitten in ihr eine wunderschöne kleine Kapelle, mit blauen Kacheln und einem zarten weißen Betondach. Das scheint gar kein Gewicht zu haben.

Die Kapelle ist den Arbeitern gewidmet, die Brasília gebaut haben. Viele von ihnen sind dageblieben.

"Wir dachten, die fertige Stadt würde eines Tages uns gehören", sagt einer von ihnen in einer der vielen TV-Dokumentationen zum Jubiläum, die anschauenswert über Youtube flimmern. "Wenn jemand einen Kuchen bäckt, dann will er später auch ein Stück davon abbekommen." Kuchen gab's keinen, dafür Diktatur und Militär bis 1985. Brasília war Experiment, Abenteuer. Wer sagt, es sei gescheitert? Was wäre dann - geglückt?

Die Idee Brasílias wurde nach dem Militärputsch pervertiert. Die großen Plätze und Areale wurden künftig für Militärparaden genutzt. So hatten sich das weder Präsident Kubitschek noch seine Planer Costa und Niemeyer vorgestellt. (Ute Woltron / DER STANDARD, Printausgabe, 16.4.2010)