Hideo Murai kurz vor seinem Tod: TV-Kameras filmten den Mord an dem Aum-Chemiker live mit.

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Sektenchef Asahara, damals noch gemütlich im Pyjama, heute in der Todeszelle.

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Um kurz nach halb acht Uhr morgens traf Hideo Murai vor den Augen der Weltpresse seinen Mörder. Alles ging sehr schnell, eine der Dutzenden Kameras vor Ort filmte die zehn Messerstiche mit, die den Bauch des 37-Jährigen trafen. Sechs Stunden lang rang Murai mit dem Tod. Im Krankenhaus verlor er den Kampf. Dabei wollte Murai an diesem 23. April 1995 nur das tun, was er immer tat: seinem Guru Treue schwören, das nahe Ende der Welt verkünden, Pläne zu neuen Morden schmieden. Vor genau fünfzehn Jahren ereilte ihn selbst dieses Schicksal.

Der Täter, ein junger Koreaner namens Hiroyuki Jo, wurde noch am Tatort zusammen mit zwei Komplizen verhaftet. Der 29-Jährige hatte das Küchenmesser in einem Briefumschlag zum Hauptquartier der Sekte geschmuggelt, wo er auf Murai traf. Er habe aus Wut über den Anschlag gehandelt, den Murai und seine Kumpanen einen Monat zuvor in der Tokioter U-Bahn verübt hatten, gab er zu Protokoll. Später widerrief er seine Aussage. Die Yakuza, die japanische Mafia, hätten ihm die Tat befohlen, sagte er aus.

Tödlicher Sarin-Anschlag

Einen Monat zuvor, am 20. März 1995, hatten Murai und seinesgleichen die japanische Metropole in Angst und Schrecken versetzt. Bei Giftgasanschlägen der obskuren Aum Shinrikyo-Sekte auf fünf Züge der Tokioter U-Bahn starben 13 Menschen, mehr als 6.200 Passagiere und Angestellte wurden zum Teil schwer verletzt. Seither wurde das Hauptstadtquartier der Endzeit-Apologeten von Fernsehteams belagert.

Der studierte Astrophysiker, Röntgenexperte und Computerprogrammierer Murai machte aus seinen Ansichten keinen Hehl. Kurz vor dem Anschlag auf die U-Bahn gab er vor versammelter Auslandspresse die Ergebnisse seiner Forschungen bei Aum zum Besten. Er könne Erdbeben künstlich auslösen und stünde kurz davor, Mikrowellen- und Plasmawaffen zu entwickeln, prahlte er. Sein großes Vorbild: Nikola Tesla, ein serbo-kroatischer Elektroingenieur, der den Wechselstrom erfand.

"Wissenschaftsminister" und Mörder

Tatsächlich war Murai als sekteneigener "Wissenschaftsminister" für die Entwicklung des tödlichen Nervengases Sarin zuständig, das in einer eigens dafür erworbenen Farm in der australischen Wüste an Schafen getestet wurde und schon vor dem großen Coup in Tokio 1994 gegen Zivilisten in einer japanischen Provinzstadt eingesetzt worden war. Gerüchten zufolge benutzten Aum-Mitglieder das abgelegene Grundstück auch zum Test selbstgebauter Bomben.

Die Sekte Aum Shinrikyo, was zu Deutsch etwa so viel heißt wie "Höchste Wahrheit", beruft sich auf krude Versatzstücke anderer Glaubensrichtungen, etwa des in Japan verbreiteten Buddhismus und des Christentums, und Praktiken aus der Yoga-Lehre.

Ideologisch begründet sich die Mordlust der Aum-Sekte in der Annahme, die Welt sei korrupt und verdorben und ein Mord könne sowohl den Täter als auch das Opfer "zur Erleuchtung bringen". Gegründet Anfang der Achtzigerjahre, expandierte die Sekte nach dem Ende der Sowjetunion auch nach Russland, wo sie nach und nach eine größere Zahl an Anhängern rekrutieren konnte als im Mutterland Japan. Schätzungen gingen in den 1990ern von etwa 40.000 Mitgliedern weltweit aus.

Der in seiner Heimat auf die Vollstreckung der Todesstrafe wartende Sektenführer Shoko Asahara nannte sich abwechselnd "Christus", "Lamm Gottes" und "Erleuchteter", jedenfalls schreckte er vor keiner Gewalttat zurück, um seine Macht durchzusetzen. Als erwiesen gilt heute, dass auch Chefchemiker Murai höchstselbst Hand an seine Opfer gelegt hat. Im November 1989, sechs Jahre bevor die Sekte weltweit Aufsehen erregte, wurden in Yokohama der Anwalt Tsutsumi Sakamato, dessen Frau und der 14 Monate alte Sohn nach einem Einbruch in ihrem eigenen Haus mit Giftinjektionen und Schlägen ermordet. Sakamoto vertrat Gegner der Sekte bei einem Gerichtsprozess.

"Erleuchtung"

Nach dem U-Bahn-Anschlag verlor Aum Shinrikyo neben einem Großteil ihrer Finanzmittel und Mitglieder auch die Zulassung als Religionsgemeinschaft. Mittlerweile besteht die Sekte aber unter dem Namen "Aleph" sowie unter einigen Abspaltungen weiter. Hiroyuki Jo, der Attentäter, der vor fünfzehn Jahren Hideo Murai erstach, lebte ebenfalls nicht mehr lang. Wenige Tage nach seiner Inhaftierung wurde er tot in seiner Zelle aufgefunden. Offiziell hatte er Selbstmord begangen. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 22.4.2010)