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"Eine Sache, die mich nach der Veröffentlichung des Artikels am glücklichsten machte war, dass sehr viele Menschen den Artikel online gelesen haben", so Pulitzer-Preisträgerin Sheri Fink.

Foto: AP/ProPublica/Lars Klov

Sheri Fink arbeitet als Journalistin unter Bedingungen, die sich für die allermeisten Journalisten wie Erzählungen aus einer fernen Welt anhören: Weder Geld noch Zeitmangel bei der Recherche, 140 Gesprächspartner und rund ein Dutzend Personen, die aktiv an der Entstehung eines Artikels beteiligt sind. Zwei alleine dafür, damit alle Fakten noch einmal überprüft werden.

Dabei arbeitet Fink bei einem Medienunternehmen, das es erst seit zwei Jahren gibt. Das Onlinemedium "Pro Publica" agiert, finanziert von Stiftungen und Spenden, als Non-Profit-Unternehmen, das sich der Förderung von investigativem Journalismus verschrieben hat.

Bei der 94. Verleihung der renommierten Pulitzer-Preise Ende Mai kommt es nun erstmals in der Geschichte dazu, dass auch die Arbeiten von Onlinemedien mit einem der begehrten Preise ausgezeichnet werden. Neben dem Artikel "The Deadly Choices at Memorial" von Sheri Fink, werden auch Arbeiten der Onlineableger des "San Franicso Chronicle" und der "Seattle Times" ausgezeichnet.

Tödliche Injektionen nach Hurrikan "Katrina"

Mit ihrem Artikel, der in Zusammenarbeit mit dem "New York Times Magazine" entstanden ist, überzeugte Fink die Juroren in der Kategorie "Investigative Reporting". Ursprünglich hatte sie den Artikel für die Kategorie "Feature Writing" eingereicht. Fink rekonstruierte die tragischen Ereignisse in einem Spital, die sich in einer Extremsituation nach dem Hurrikan "Katrina" zugetragen hatten. Mitarbeiter des Memorial-Medical-Centers verabreichten mehreren Patienten tödliche Injektionen, da sie eine Evakuierung als schwer durchführbar erachteten und eine solche auch nicht absehbar war.

Im Gespräch mit derStandard.at spricht Fink über die Entstehungsgeschichte des Artikels, erstklassigen Journalismus ohne Zeit- und Geldmangel und die Modelle, die dies ermöglichen. Michael Kremmel schilderte sie die Hintergründe und Bedingungen, die diesen Artikel ermöglichten, und was man aus den tragischen Ereignissen lernen kann.

derStandard.at: Sie haben für diesen Artikel mehr als zwei Jahre recherchiert. Wie sind Sie auf diese Geschichte gestoßen, was war Ihre Motivation?

Sheri Fink: Nach dem Hurrikan gab es erste Anschuldigungen, dass es in einem Spital zu Sterbehilfe gekommen ist. Alle Medien, die darüber berichtet haben, schrieben darüber, dass eine Ärztin verhaftet wurde und des Totschlags beschuldigt wurde. Ich habe also von der Geschichte erfahren, wie die meisten anderen Menschen in Amerika auch. Ich war selbst schon in Krisengebieten und habe auch ein Buch über ein Spital in Srebrenica während des Krieges in Bosnien geschrieben. Deswegen hatte ich schon Erfahrung mit medizinischer Versorgung in Krisensituationen und wusste über die Schwierigkeiten, die dort auftreten können, Bescheid. Ich hatte aber noch nie gehört, dass so etwas in dieser Art vorgefallen ist. Das hat mich neugierig gemacht. Mein Ansatz war, dass ich wissen wollte, was dort vorgefallen sein musste, damit es zu diesen Beschuldigungen kam.

derStandard.at: Die Situation im Spital war außergewöhnlich: Kein Strom, große Hitze, kaum Schlaf und Wasser, sowie eine permanente Angstsituation und kaum Aussichten auf einen Ausweg. Braucht es außergewöhnliche Situationen, um außergewöhnlich guten Journalismus zu machen?

Fink: Es war sicher der Situation geschuldet, dass das medizinische Personal diese Entscheidungen so getroffen hat. Aber es kann in vielen Ländern und auch in anderen Städten der USA zu ähnlichen Situationen kommen, sei es durch Naturkatastrophen oder durch vom Menschen verursachte. Diese Katastrophen können einen ungeheuren Druck auf ein Spital oder ein ganzes Gesundheitssystem verursachen. Der Artikel behandelt zwar ausschließlich die Situation in dem einen Spital, greift dabei aber Themen auf, die auch darüber hinaus überall wichtig sind, nämlich eben wie man in solchen Situationen die medizinische Versorgung sicherstellt und Entscheidungen für oder mit den Patienten macht.

derStandard.at: Sie sind selber Ärztin, haben in Stanford studiert. Wäre es auch möglich gewesen, diesen Artikel ohne diese Qualifikation in dieser Form zu schreiben?

Fink: Ja, es gibt viele Gesundheitsjournalisten, die selber keine Ärzte sind, die ihren Job fantastisch machen. Aber für mich war es sicher ein Vorteil, insbesondere, um diese Situation verstehen zu können. Somit gab mir diese Qualifikation sicher einen Startvorteil, aber jeder intelligente Journalist hätte diese Geschichte auch machen können, unabhängig davon, was er zuvor studiert hat.

derStandard.at: Als Sie begonnen haben, für diese Geschichte zu recherchieren, waren sie freie Journalistin. Wann wussten Sie, dass sich die intensive Recherche für sie auszahlen würde und der Artikel auch tatsächlich erscheinen wird?

Fink: Ich bin eine Person, die sich immer Sorgen macht und deswegen habe ich nicht geglaubt, dass die Geschichte veröffentlicht wird, auch nicht, als wir schon sehr weit fortgeschritten waren. Es gab viele Entwürfe für den Artikel und der Entstehungsprozess war lange und intensiv. Das ist auch gut so, führt aber manchmal auch dazu, dass man glaubt, die Geschichte würde nie erscheinen.

derStandard.at: "ProPublica", die Organisation, für die Sie arbeiten, wurde deshalb gegründet, weil es Journalisten oftmals an Zeit und Geld fehlt, um ihre Arbeit gut zu machen. Hatten Sie irgendwelche Zeit- oder Geldbeschränkungen bei ihrer Arbeit?

Fink: Das großartige an "ProPublica" ist, dass es genau dafür gegründet wurde, um tiefschürfende Geschichten und intensive Recherchen zu ermöglichen. Es gibt viele Geschichten, deren Recherchen sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Für mich gab es praktisch keine Beschränkungen, was Reisekosten oder andere Ausgaben betrafen, um über diese Geschichte berichten zu können. Das ist das wundervolle daran, wenn man hier arbeiten darf, und ich wusste es sehr zu schätzen, um über dieses Ereignis gut und umfassend berichten zu können.

derStandard.at: Es heißt oft, dass im Onlinejournalismus vor allem die Schnelligkeit zählt und die User ohnehin nur an kurzen Nachrichten interessiert sind. Ihr Artikel aber zeichnet sich aus durch intensive Recherche, Ihren Schreibstil und besteht aus 13.000 Wörtern. Ist das also eine falsche Denkweise, oder ist Ihr Artikel schlichtweg ein klassischer Artikel für ein Printmagazin, der lediglich von einer Onlineorganisation mitfinanziert wurde?

Fink: Eine Sache, die mich nach der Veröffentlichung des Artikels am glücklichsten machte war, dass sehr viele Menschen den Artikel online gelesen haben. Das war für mich der Gegenbeweis zur üblichen Denkweise, dass im Web nur kurze Artikel gelesen werden. Ich weiß nicht, wie der Forschungsstand ist. Mich aber stimmt es optimistisch, dass auch lange und umfassende Artikel in einem Zeitalter gelesen werden, in dem immer mehr Journalismus im Web stattfindet.

derStandard.at: Gab es einen Unterschied diese Geschichte einerseits für eine Website und andererseits für ein Printprodukt zu machen?

Fink: Wir haben für die Website Extraelemente hinzugefügt, die es den Usern erlauben, die Geschichte besser zu verstehen. So wurde eigens ein Grafikdesigner engagiert, der eine schematische Darstellung des Krankenhauses erstellt hat. Durch Klicken erfährt man beispielsweise, wie schwierig es wirklich war, die Patienten zu evakuieren. Das hilft der Umsetzung der Geschichte natürlich. Genauso mag ich aber, wie das "New York Times Magazine" den Artikel umgesetzt hat. Dort wurde wiederum ein außergewöhnlicher Fotograf engagiert und die Grafikabteilung hat das ganze so umgesetzt, dass es einen bleibenden Eindruck hinterließ. Ich mag Printprodukte sehr gerne und schätze beide Seiten, Print- und Onlinemedien.

derStandard.at: Wie wichtig aber es für den Einfluss und die Resonanz der Geschichte, dass diese auch in Printform erschien?

Fink: Es war sehr wichtig, dass die Geschichte auch im Magazin der "New York Times" publiziert wurde. Das ist ein überaus etabliertes und vertrauenswürdiges Medienunternehmen. Durch die große Auflage haben viele Leute von der Geschichte erfahren. Und es ist schwer zu sagen, ob die Geschichte ohne die Partnerschaft mit dem Magazin überhaupt auf der "ProPublica"-Website erschienen wäre. Denn hierbei handelte es sich um eine Medienkooperation: Der Artikel wurde oft überarbeitet und zwar von beiden Seiten, von den fantastischen Redakteuren bei "ProPublica" genauso wie von denen beim Magazin. Alle haben ihre Ideen beigesteuert und die Artikelentwürfe verbessert. Zudem hat das "New York Times Magazine" ein hervorragendes Recherche-Team. In der Woche vor der Veröffentlichung haben zwei Fact-Checker alle Personen mit denen ich gesprochen habe nochmals kontaktiert, um alle Fakten doppelt zu prüfen. So wurde die Geschichte durch die Bemühungen beider Organisationen maßgeblich beeinflusst und es ist schwer zu sagen, wie es gekommen wäre, hätte es die Geschichte in Print nicht gegeben.

derStandard.at: Wie viele Personen waren am Entstehungsprozess dieser Geschichte beteiligt?

Fink: Sie müssen wissen, dass ein Autor den Pulitzer-Preis bekommt, aber in Wahrheit sehr viele Menschen mit ihrem Einsatz hinter solch einer Geschichte stehen. Ich selbst habe über zwei Jahre investiert, wobei ich natürlich auch andere Sachen daneben gemacht habe und dies nicht meine einzige Tätigkeit war. Es gab zwei Redakteure bei "ProPublica" und einen beim "New York Times Magazine". Daneben noch die Chefredakteure, die Rechercheabteilung mit den Fact-Checkern, das Webteam, die Kommunikations- und die Rechtsabteilung, die ihren Beitrag zur Realisierung des Artikels geleistet haben. Insgesamt etwa zwölf Personen.

derStandard.at: Solch aufwändiger Journalismus ist auch dementsprechend teuer und viele Medienunternehmen können oder wollen sich das nicht mehr leisten. Ist das Non-Profit-Modell, das von reichen und großzügigen Personen gesponsert wird, die letzte Zuflucht für Journalismus dieser Art?

Fink: Nein, aber jeder bei "ProPublica" wird zustimmen, dass es ein gutes Modell ist und wir es genießen, so zu arbeiten und hoffen, das auch weiterhin tun zu können, und vielleicht auch andere damit zu inspirieren. Aber wir vertreten auch die Einstellung, dass viele Jobs in den letzten Jahren im Journalismus verloren gingen und die fünfunddreißig Personen, die wir hier in unserer Redaktion sind, niemals alle ersetzen können. Unser Modell ist nur eines von vielen Modellen. Es muss aber Investitionen von vielen Personen geben, um neue zukunftsträchtige Modell zu entwickeln, die diese Art von Journalismus ermöglichen.

derStandard.at: Die Artikel, die bei "ProPublica" erscheinen, stehen alle unter einer "Creative Commons"-Lizenz. Welche Motivation hat eine Organisation wie das "New York Times Magazine", viel Geld in die Entwicklung einer solchen Geschichte zu investieren, die später jeder selbst weiter verwenden und publizieren kann?

Fink: Die Bedingung ist, dass man auf "ProPublica" verlinkt und die Geschichten nicht verändert, dann kann man diese nutzen. Das ermöglicht natürlich, dass die Geschichte öfters gelesen wird. Bei meiner Geschichte war es so, dass es eine 30-Tage-Sperrfrist gab, bevor man den Artikel verwenden konnte und er ist natürlich zuerst in Print erschienen.

derStandard.at: Ihr Artikel warf heikle Fragen auf. Sie selbst sind Ärztin und haben diese Geschichte intensiv recherchiert. Konnten Sie für sich selbst beantworten, was in einer solchen Situation zu tun ist und was man daraus lernen kann?

Fink: Mit dem Vorteil, große Distanz zu dem Ereignis zu haben, und Jahre darüber nachdenken zu können, weiß ich natürlich, welche Entscheidungen ich in solch einer Situation gerne treffen würde. Deswegen ist es wichtig, auf solche Situationen gut vorbereitet zu sein, und im Vorhinein darüber nachzudenken und zu sprechen. Ich hoffe, das konnte ich mit meinem Artikel ins Bewusstsein rufen. Es ist überaus schwierig solche Entscheidungen fällen zu müssen, wenn man erschöpft ist, Angst hat und noch nie darüber nachgedacht hat. Wenn man in einer Krisensituationen beschränkte Ressourcen hat und darüber entscheiden muss, welcher Patient welche Ressourcen erhalten soll und welcher nicht, dann ist eines überaus wichtig, nämlich im Hinterkopf zu haben, dass sich die Ressourcen auch ändern können. Das Personen, die nicht den Anschein machen, dass sie gerettet werden können, doch gerettet werden können. Das ist wichtig zu berücksichtigen. (derStandard.at, 27.4.2010)