Es gibt weder den Wähler noch die Wählerin - auch wenn diese Abstrakta kommenden Sonntag nach der Hochrechnung durch die Stellungnahmen geistern werden. Und es gibt keinen Wählerwillen, bloß ein Wahlergebnis als Summe der Einzelentscheidungen.

Genau das ist das Problem: Alle werden alles interpretieren - auf Wähler komm raus sozusagen. Jedes Mitglied des Wahlvolkes wird sich fehlinterpretiert fühlen dürfen, weil wir nur mit schlichten Kreuzerln unsere Meinung kundtun können, sodass jede Partei und jeder Politiker dieses Kreuzerl nach Gutdünken vereinnahmen und jeder Meinungsforscher durch entsprechend wissenschaftliche Fragestellung die gewünschte Interpretation untermauern kann. Es ist also recht ein Kreuz mit den Kreuzerln.

Natürlich versucht jeder einzelne Wahlberechtigte mit seinem Verhalten etwas zu signalisieren. Nur was? Das steht nicht auf dem Wahlzettel, dann wäre er nämlich ungültig. Man zwingt uns regelmäßig, das sogenannte und angeblich kleinere Übel zu wählen. ÖVP-Wähler müssen deshalb diesmal Fischer oder weiß wählen. Protestwähler können überlegen, welches von zwei großen Übeln das kleinere ist: Frau Rosenkranz oder ein religiöser Fanatiker, dessen Namen niemandem auf Anhieb einfällt. Als dritte Möglichkeit bleibt auch ihnen das Weißwählen. Wer das alles ablehnt, kann der Wahl über-haupt fernbleiben und unwillentlich die blutigen Kämpfe unserer Vorfahren ums Wahlrecht konterkarieren.

Doch was immer das individuelle Wählerchen mit seinem Verhalten beabsichtigt: das Kreuzerl, kaum am Stimmzettel angebracht, gehört nicht mehr ihm, sein ungültiger Stimmzettel wird vereinnahmt, und selbst das Zu-Hause-Bleiben wird politisch usurpiert. Die Wähler haben die Kreuzerl- aber nicht die Deutungshoheit.

Das ist - und hier kommen wir zum Verfasser dieser Zeilen - mein Dilemma. Obwohl ich Sozialdemokrat bin, will ich Fischer aus mehreren Gründen nicht wählen: Seine einzige neue Idee im Wahlkampf war die Verlängerung der Funktionsperiode auf acht Jahre. Weniger Demokratie wagen! Kreisky ist wirklich mausetot. Außerdem geht mir Fischers exzessive Ausgewogenheit exzessiv auf die Nerven.

Angesichts des Jubiläums von Kreiskys erstem Wahlsieg stellt sich die Frage: Hätte Fischer den Mumm des damaligen BP Jonas gehabt, eine Minderheitsregierung zuzulassen? Kaum, wie die Bildung einer großen Koalition unter Gusenbauer wohl auch beweist.

Die kurze Chance einer neuen Regierungskonstellation mit frei wechselnden Mehrheiten wurde wahrscheinlich auch durch Fischers chronische Konfliktscheu vertan.

Und zuletzt: Ich will keine Jubelrufe aus der Löwelstraße, dass die Krise der SPÖ dank meines herdengemäßen Wahlverhaltens (Kreuzerl bei Fischer) überwunden sei. Was der Busek tut, ist sein Problem, wahrscheinlich arbeiten er und der Karas schon an der vierten Strophe der Internationale (kleiner Tipp: vielleicht von G-Dur in eine Moll-Tonart wechseln, dann klingt es weniger fröhlich).

Rosenkranz nicht zu wählen ist angesichts ihrer eloquent vorgetragenen Schulkenntnisse über das Nazi-Unwesen beinahe Bürgerpflicht, deswegen gleich Fischer wählen zu müssen keineswegs. Und Herrn Gehring wähle ich nicht, weil seine Wertvorstellungen konsequenterweise zur Abschaffung des Frauenwahlrechts führen - aber vielleicht ist das seine "hidden agenda", wie sie heute schon jeder Provinzpolitiker in der Schublade liegen hat. Spaß beiseite: Den können nur Flagellanten und Mitglieder des Opus Dei (was aufs Gleiche rauskommt) wählen.

Bleibt also weiß zu wählen oder zu Hause zu bleiben. Im ersten Fall wird die ÖVP meine Stimmenthaltung für sich reklamieren, was wirklich nicht meinen Absichten entspricht. Bleibe ich zu Hause: auch keine Lösung. Denn unsere im Demokratieabbau geübten Politiker werden folgern: Die Wählerschaft will den HBP gar nicht wählen. Also machen wir das in Hinkunft selbst, im Parlament. Dass uns das - wie Herr Votzi im Kurier meint - skurrile Kandidaten ersparen würde, widerlegt die politische Realität. Genau dieses Parlament hat nämlich einen Herrn Graf, im selben rechtsradikalen und reichlich übervölkerten Eckerl beheimatet wie Frau Rosenkranz, zu seinem Dritten Präsidenten gewählt.

Ich werde also am Sonntag aus purer Notwehr weiß wählen. Gleichzeitig fordere ich, weder mein Votum noch das der Bevölkerung wie oben beschrieben zu vereinnahmen. Es sind die Kandidaten, nicht die Wähler, stupid! Kapiert das endlich, sonst gibt es bei der nächsten Wahl politische Notwehrüberschreitungen. (Michael Amon, DER STANDARD, Printausgabe, 24./25.4.2010)