Standard: Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin, am Samstag und Sonntag EM-Gast, ist Träger des schwarzen Gürtels und hat den 6. Dan. Wie ist das einzuordnen, welchen Dan haben Sie?

Seisenbacher: Ich hab den 7. Dan. Es gibt zehn Dangrade, wobei den 10. Dan nur sechs lebende Personen haben. Hohe Dans sind nicht einfach zu bekommen, weil es nicht mehr um die Leistung auf der Matte geht, sondern darum, was einer auch sonst für den Sport geleistet hat. Das wird von einer Kommission bewertet. Ich habe fünfzehn Jahre auf den 7. Dan gewartet, und ich werde wohl maximal den 8. Dan schaffen.

Standard: Was wissen Sie von Putins Leistungen im Judo?

Seisenbacher: Er ist begeisterter Judoka. Er betont immer wieder seine Verbundenheit mit Judo, sagt, dass er sein Durchsetzungsvermögen dem Sport zu verdanken hat. Und er erreicht mit drei Telefonaten vielleicht genauso viel für Judo wie einer, der sein Leben lang in dem Sport arbeitet. Wenn Putin mehr Judo in russischen Schulturnstunden will, gibt es mehr Judo in den Turnstunden.

Standard: Wobei Judo in Russland einen ganz anderen Stellenwert hat als in Österreich.

Seisenbacher: Judo ist dort Nationalsport, wie bei uns das Skifahren. Wer als Russe im Judo erfolgreich ist, hat später gute Chancen in der Wirtschaft oder Politik.

Standard: Wieso ist in Österreich trotz Ihrer Erfolge kein echter Judo-Boom ausgebrochen? Wieso sind, wenn drei Österreicher in Wien um Medaillen kämpfen, nicht mehr als 2500 Zuseher in der Halle?

Seisenbacher: Das liegt auch an der Sportart. Da stehen einander stets zwei Topexperten gegenüber. Einer muss den anderen überraschen, sonst kann er ihn nicht werfen. Aber er überrascht auch das Publikum, man kommt sozusagen beim Zusehen immer zu spät. Man bräuchte ständig Wiederholungen und Zeitlupen, um das Geschehene zu begreifen, sonst ist das Überraschungsmoment einfach zu groß. Zum Selbermachen ist Judo eine ganz tolle Sportart, zum Zuschauen aber problematisch.

Standard: Enttäuscht es Sie nicht, dass sich von landesweit 15.000 Aktiven, die bei den circa 200 Vereinen gemeldet sind, nicht mehr die EM geben wollen?

Seisenbacher: Es sind 90 bis 95 Prozent unserer Judoka noch Schüler, in diesem Segment sind wir top. Aber für Schüler ist es schwierig, am Donnerstagnachmittag in die Halle zu gehen. Wir hätten die Gewichtsklassen mit den Hoffnungsträgern gerne aufs Wochenende verlegt. Aber auf europäischer Ebene war das kein Argument. Ich bin sicher, am Wochenende nehmen viele Eltern ihre kleinen Judoka an der Hand, um mit ihnen ins Dusika-Stadion zu gehen.

Standard: Das Dusika-Stadion ist halt auch keine Perle. Viele Zuseher sitzen weit weg vom Geschehen. Gab's keine Alternative?

Seisenbacher: Das Dusika-Stadion erweist sich entgegen vielen Unkenrufen als ganz praktikabel. Die breite Radbahn kann man nicht aus der Welt schaffen. Und wir sind halt, das stimmt schon, eine Randsportart, wir müssen auf die Kosten schauen. Eine Messehalle hätte vielleicht besser gewirkt, aber das wäre finanziell nie machbar gewesen.

Standard: Warum hören von den vielen Kindern, die Judo betreiben, in der Jugend fast alle auf?

Seisenbacher: Auch das hat mit dem Judo an sich zu tun. Viele Kinder raufen gerne, purzeln gerne, Kinder sind weich, verletzen sich selten. Aber wenn sie wachsen, fallen sie immer höher runter, und das Fallen tut immer mehr weh. Die Harmonie, die in einem Kindertraining herrscht, geht später irgendwann verloren. Auch der enge Körperkontakt, der herrscht, wird in der Pubertät oft problematisch. Wir sind eine gute Basissportart, wir schulen Geschicklichkeit, Gewandtheit. Vom Judo hat man oft auch später etwas, wenn man zum Beispiel beim Skifahren stürzt und instinktiv weiß, wie man fallen muss.

Standard: Behauptung: Die EM-Zweiten Sabrina Filzmoser und Ludwig Paischer können in Wien praktisch unerkannt durch die Kärntner Straße gehen. Hat man als Judoka ohne Olympiasieg keine Chance auf Popularität?

Seisenbacher: Auch eine tolle sportliche Leistung ist nicht zwingend mit Bekanntheit verbunden. Bekanntheit hängt von der Werbemaschinerie ab, die den passenden Typen finden muss. Es gibt viele tolle Skifahrer, aber nur einen Hermann Maier. Der ist vor allem auch ein Produkt, das ist gemacht, das ist gut gemacht, da hat sich jemand viel überlegt.

Standard: Und die Judo-Maiers werden also in Russland oder vor allem in Japan produziert?

Seisenbacher: Japan hat im Judo, wie unser Skiverband, ein großes Nationalteam mit vielen erfolgreichen Kämpfern. Aber den Status eines Hermann Maier haben nur ganz wenige. Zum Beispiel sticht bei den Frauen Ryoko Tani heraus, und zwar auch nicht nur wegen ihrer Erfolge, sondern weil sie Werbung macht für Kosmetika, und das fährt in Japan voll ein. Sie hat fünf Teamkolleginnen, die ebenfalls erfolgreich sind, die aber kaum jemand kennt. Aber Tanis Hochzeit wurde stundenlang im Fernsehen übertragen. (DER STANDARD PRINTAUSGABE 24.4. 2010)