Der französische Dichter und Essayist Paul Valéry schrieb mehrmals über die Unvorhersehbarkeit der Zukunft und warnte: "... jegliche Vorausschau als unzuverlässig aufzufassen, eben weil es Vorausschau ist. Wir gehen rückwärts in die Zukunft ... es gibt in uns eine Krise des Unvorhergesehenen." Diese 1937 verfassten Worte fielen mir ein, als ich die zahlreichen in- und ausländischen Kommentare über die zu erwartenden politischen Prioritäten Viktor Orbáns, des fulminanten Siegers des zweiten Wahlgangs, gelesen habe.

Was er in seiner Siegesrhetorik über "eine Revolution in den Wahlzellen", "den Sturz eines Systems der Oligarchen" und über ein neu zu errichtendes "System der nationalen Zusammenarbeit" sagte und was die ihm ergebenen Blätter in einem Taumel der Begeisterung über "das Ausmisten moralischen und kulturellen Schmutzes und der in Kosmopolitismus und Neoliberalismus versteckten und wiederbelebten bolschewistischen Ideen" schreiben, scheint die von ungarischen Schriftstellern und Publizisten (u. a. von György Konrád, Rudolf Ungváry) geäußerten Befürchtungen über die düsteren Folgen der Allmacht Orbáns und seiner Partei zu bestätigen.

Andererseits zeigen seine vorsichtigen Antworten bei seiner ersten Pressekonferenz, dass er sich seines äußerst begrenzten Spielraums in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eben so bewusst ist wie des wachen Misstrauens der internationalen Medien und der kritischen Aufmerksamkeit der Finanzwelt. Auch die Tatsache, dass der fähige und sprachkundige Außenminister seiner ersten Regierung (1998- 2002), János Martonyi, wieder zum Chef der ungarischen Diplomatie in der kritischen Vorbereitungsphase zur Übernahme des EU-Vorsitzes zu Beginn des Jahres 2011 bestellt wird, kann man als ein positives Signal betrachten.

Angesichts der Machtfülle des 47-jährigen Fidesz-Chefs und des desolaten Zustands der linken, sozialistischen Opposition gibt es für die absehbare Zukunft keine Möglichkeit, von innen heraus die Entscheidungen Orbáns zu beeinflussen. Die rechtskonservativen und indirekt vom Fidesz kontrollierten Medien werden von Tag zu Tag stärker. Nur zwei Tage nach der Wahl haben Orbáns Freunde neben dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den zwei rechtskonservativen TV-Sendern auch einen maßgeblichen Einfluss auf den ungarischen RTL-Ableger RTL Club gewonnen.

Vor dem Hintergrund des lautstarken Auftretens der rechtsradikalen Jobbik und der von Korruptionsaffären und Positionskämpfen gelähmten Linken hängt alles davon ab, ob Orbán, der keine Rivalen in der eigenen Partei hat, mit Blick auf seine angestrebte internationale Autorität maßvoll und berechenbar agieren wird. Es wäre töricht, den vom Übergangspremier Gordon Bajnai in einem Jahr aufgebauten Goodwill durch hastige populistische Maßnahmen zu verspielen. Ungarn befindet sich nicht mehr in der Krisenzone, aber das Beispiel Griechenlands sollte die neue Regierung zur Vorsicht mahnen. In der Innenpolitik mag "Orbán über alles" stimmen, aber Ungarn kann ohne Beistand Europas seine immensen sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht lösen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe, 29.4.2010)