Die Rätselhafte und ihr Opfer: Margareta Klobuèar (Lulu) und Ashley Holland (Dr. Schön).

Foto: Kmetitsch

Graz - Sie ist lüstern, mörderisch, rätselhaft, launisch: Bei Frank Wedekinds Lulu handelt es sich zweifellos um eine Projektion männlicher Urängste und verborgener -wünsche in eine einzige Frauenfigur. Alban Berg hat die Geschichte dieser Lulu in seiner Oper hochexpressiv ausstaffiert und dabei gleichermaßen die Faszination wie den Schrecken eingefangen, die sie Männern einflößt.

Für die Hauptrolle schrieb Berg eine wahnwitzige Partie für einen Koloratursopran, dessen Aufgaben an Hochleistungssport grenzen; jede Aufführung steht und fällt mit den Fähigkeiten der Protagonistin, auch weil die noch so perfekte Realisation des Parts noch lange nicht genügt. Es gibt kaum eine Opernfigur, deren Darstellung diffiziler ist. An der Oper Graz ließ Margareta Klobuèar musikalisch kaum Wünsche offen. Sie gab noch den exponiertesten Linien Kontur und Gehalt und verband dies mit einer fulminanten schauspielerischen Leistung: als eine Figur, die ihre Ziele gierig verfolgt und mit gespielter Naivität kaschiert. Regisseur Johannes Erath liefert keine schlichte Erklärung der Psyche. Er setzt stattdessen auf umso genauere Darstellung ihrer Sprunghaftigkeit. Und mit der Setzung eines Rahmens zu Beginn und am Ende des zweiaktigen Fragments gibt er Lulu eine andere Perspektive, lässt sie nachdenklich auf ihre Geschichte zurückblicken, während sie "eine alte Schallplatte" anhört:

Knisternd ertönt hier Bergs Violinkonzert, für das der Komponist die Arbeit an der Oper unterbrach - und sie vielleicht deswegen nicht mehr fertigstellen konnte. Mit dieser Rahmenhandlung kompensiert die Produktion ein wenig die jedenfalls problematische Entscheidung für die unvollständige Fassung - anstelle der Vervollständigung von Friedrich Cerha.

Beim abschließenden Adagio aus der Lulu-Suite, das einst auch bei der postumen Zürcher Uraufführung des Fragments gespielt wurde, verlor sich die dramatische Spannung etwas, ohne dass man der Umsetzung einen Vorwurf machen könnte: weder der Szene noch dem Orchester und dem Dirigenten Johannes Fritzsch, die das Ganze glutvoll und transparent trugen. Durchwegs formidable Sänger: der markige Ashley Holland (Dr. Schön), der höhensichere Taylan Memioglu (Maler), der sanfte, sonore Konstantin Sfiris (Schigolch), die intensive Iris Vermillion (Geschwitz) und der überragende, enormen Leidensdruck ausstrahlende Herbert Lippert (Alwa).

Sie alle kreisen um die Hauptfigur, ebenso wie sich die Bühne (Katrin Connan) mit einer kahlen Betonwand ständig dreht und ansonsten nur wenige Andeutungen gibt. Auch szenisch ist etwa das Bild, das der Maler von Lulu malt, ein Leitmotiv (wie es auch schon musikalisch durch die allgegenwärtigen "Bildakkorde" vorgegeben ist). Die gemalte Lulu entsteigt dem Rahmen und geistert ebenso über die Bühne wie die Figuren der Handlung, die durch ihre schemenhafte Überzeichnung als Projektionen deutbar werden. Und durch ihre szenische und musikalische Präsenz gerät Lulu, die Inkarnation männlicher Fantasien, zum lebendigsten, lebensnahesten Charakter. Sowohl für Klobuèar als auch für das Ensemble ein Triumph. (Daniel Ender/DER STANDARD, Printausgabe, 3. 5. 2010)