Bagdad/Wien - Beinahe zwei Monate nach den Parlamentswahlen im Irak ist die Regierungsbildung in die Ferne gerückt - es ist ja noch nicht einmal ein offizielles Wahlergebnis in Sicht. Am Montag startete eine Neuauszählung der zweieinhalb Millionen Stimmen in Bagdad, die knapp zwei Wochen dauern soll. Sie wurde nach Beschwerden der "Rechtsstaat" -Partei von Premier Nuri al-Maliki angeordnet.
Maliki liegt nach den vorläufigen Ergebnissen mit 89 Mandaten zwei Mandate hinter Expremier Iyad Allawi mit seinem säkularen Block Irakiya (91). Beide sind von einer Mehrheit im Parlament (163 Sitze) weit entfernt.
Wie es nun aussieht, wird Maliki aber auch die von ihm gewünschte Neuauszählung nicht anerkennen. Er verlangt einen Abgleich der abgegebenen Stimmen mit den Wahllisten. Die Wahlkommission (IHEC) lehnt dies vorläufig ab: Es gebe keine Diskrepanzen zwischen Listen und Stimmenanzahl. So wird erst einmal weiter ausgezählt und auf eine neue Entscheidung der Berufungskommission gewartet.
Aber die Neuauszählung ist nicht die einzige offene Frage für den Wahlausgang. 60 Kandidaten, die bei den Wahlen am 7. März angetreten sind und tausende Stimmen auf sich versammelt haben, wurden Ende April, das heißt Wochen nach den Wahlen, wegen angeblicher Nähe zur Baath-Partei disqualifiziert. 52 der 60 Betroffenen wurden auf Betreiben nicht nur der schiitisch-dominierten "Kommission für Rechenschaft und Gerechtigkeit" ausgeschlossen, sondern auch Maliki selbst spielte dabei eine Rolle. Die Stoßrichtung Malikis ist klar die Irakiya von Iyad Allawi.
Wobei es aber unterschiedliche Auffassungen gibt, was mit den verwaisten Stimmen geschehen soll. Während einige Beobachter davon überzeugt sind, dass Neuauszählung und Disqualifizierungen reichen, um Allawi auf den zweiten Platz zu verweisen, rechnet der norwegische Irak-Spezialist Reidar Visser akribisch vor, dass Allawis Block über einen genügend großen Polster an Stimmen verfüge, um auch Aberkennungen ohne Mandatsverluste überstehen zu können. Beim Disqualifizierungsstreit kommt der Irakiya jetzt auch zupass, dass ihre Kandidaten weniger Vorzugsstimmen bekommen haben, sondern der Block gewählt wurde.
USA und Uno werden nervös
Der Verdacht liegt auf der Hand, dass auch Premier Maliki genauer nachgerechnet haben dürfte - weswegen ihm eine bloße Neuauszählung der Bagdader Stimmen plötzlich nicht mehr genügt. USA und Uno in Bagdad, die sich auch angesichts des größten Nachwahlchaos bisher zurückgehalten haben, scheinen sich jetzt mehr einzumischen. Sie verlangen, dass die Stimmen auch bei der Disqualifizierung von Kandidaten bei den Listen verbleiben.
Bei der Suche nach möglichen Koalitionen zur Regierungsbildung steckt ebenfalls alles fest: Eine große Koalition zwischen Maliki und Allawi ist durch den offenen Kampf Malikis gegen Allawi unwahrscheinlicher geworden. Der drittgrößte Block (70 Sitze) sind die religiösen Schiiten (Ina). Ein Zusammengehen der Partei des Schiiten Maliki mit der Ina bei der Konstituierung des Parlaments - was dem neu entstehenden Block als dem größten im Parlament den Auftrag zur Regierungsbildung sichern könnte - bleibt auf beiden Seiten umstritten. Einerseits wäre es die einfachste Art, Allawi auszubooten. Andererseits gibt es gegen Maliki als Premier starken Einspruch bei den anderen Schiitienparteien. Sie haben eigene Kandidaten.
Ob sich Maliki opfern wird, ist zweifelhaft. Noch gibt er nicht auf - wobei ihn das Auffliegen eines Foltergefängnisses, das unter Aufsicht seines militärischen Büros stand, im April zusätzlich unter Druck setzt. In diesem Gefängnis wurden mutmaßliche sunnitische Militante misshandelt, gefoltert und vergewaltigt, und zwar nicht während des irakischen Bürgerkriegs 2006/2007, sondern im Herbst und Winter 2009/2010. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 5.5.2010)