Es ist ein marodes Justizsystem, das Ministerpräsident Silvio Berlusconi einmal mehr reformieren möchte. Überfüllt mit neuen Gesetzen, mit einer Flut unterschiedlichster Revisions- und Berufungsmöglichkeiten, mit unverhältnismäßigen Verhandlsungsdauern und ohne außergerichtliche Regelungen. Italien ist ein Land, in dem alles ein Delikt ist, in dem ein 200-Euro-Schadensfall schon einmal bis zu zehn Jahre dauern kann. Die geplanten Reformen Berlusconis aber dienen in erster Linie vor allem einem: ihm selbst.
Nachdem das italienische Verfassungsgericht im Oktober ein Immunitätsgesetz für rechtswidrig erklärt hat, das dem Ministerpräsidenten Straffreiheit gewährt hätte, startet die Mitte-Rechts-Koalition jetzt eine neue Offensive zum Schutz des Regierungschefs vor der Justiz. Hauptstreitpunkte sind zwei Entwürfe: Einer sichert ihm das Recht zu, einen Prozess 18 Monate aussetzen zu können. Der andere regelt die Einstellung von Verfahren nach einer zu langen Prozessdauer. Vito Monetti, Generalstaatsanwalt am Kassationshof (Oberster Gerichtshof) in Rom, der im Rahmen einer Veranstaltung der Forschungsplattform Human Rights in the European Context in Wien zu Gast war, über "Sonderbehandlungen für bestimmte Personen, die nicht gerechtfertigt sind", politischen Einfluss und "Kontakte mit kriminellen Energien".
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derStandard.at: Inwieweit kann man Premier Silvio Berlusconis Justizreform überhaupt eine Reform nennen?
Vito Monetti: Es gibt eine Reihe Gesetzesvorschläge, die dem Parlament präsentiert wurden, aber vieles weiß ich auch nur aus den Medien. Die Lage ist momentan sehr heikel und wird außerdem von heftigen politischen Auseinandersetzungen begleitet. In den Medien wird sehr viel spekuliert, aber es ist ziemlich kompliziert, den Überblick darüber zu bewahren, worum es eigentlich wirklich geht.
derStandard.at: Eine Änderung betrifft das Aussetzen von Gerichtsverfahren gegen amtierende Regierungsmitglieder. Hat dieser Entwurf irgendeine andere Berechtigung außer den Schutz Berlusconis?
Vito Monetti: Das ist bereits das dritte Gesetz in diese Richtung, über das das Parlament zu entscheiden hat. Das jetzige Gesetz wurde als verfassungswidrig eingestuft. Es gibt schließlich ein Gesetz, laut dem wir alle gleich sind - und die bisherigen Entwurf haben eindeutig bestimmte Personen bevorzugt.
derStandard.at: Das Gesetz zur "gerechtfertigten Abwesenheit" erlaubt es Berlusconi und seinen Ministern auch ohne Zustimmung des Richters nicht im Gerichtssaal erscheinen zu müssen. Ist das der Versuch einer Überbrückung, bis ein neues Immunitätsgesetz ausgearbeitet ist?
Vito Monetti: Beides bedeutet eine Sonderbehandlung für bestimmte Personen, die nicht gerechtfertigt ist. Es bräuchte außerdem ein Verfassungsgesetz, um dem Premierminister und den Ministern diese Art von Schutz zu geben. Mit einem normalen Gesetz ist das nicht möglich.
derStandard.at: Die Regierung will offiziell einen Missstand beseitigen: 5,5 Millionen Zivilverfahren sind derzeitig anhängig, dazu kommen 3,3 Millionen Strafprozesse, die oft zehn Jahre und länger dauern. In keinem demokratischen Land ziehen sich Prozesse so lange hin. Was spricht dagegen, das schleppende Prozessverfahren in Italien zu beschleunigen?
Vito Monetti: In der Regel beginnt ein Strafprozess mit der Anklage einer Person und endet mit einer Verurteilung oder einem Freispruch derselben. Mit der geplanten Änderung wäre das Prinzip anders: Da muss bis zu einem gewissen Tag ein Urteil gefällt werden. Wenn die Justiz in erster, in zweiter, in dritter Instanz oder gar vor dem Kassationsgericht diese Frist nicht einhält, ist der Prozess trotzdem beendet. Das heißt, er geht zwar zu Ende, aber es gibt kein Urteil, er geht zu Ende und damit basta. Das ist mir komplett unverständlich, vermutlich ist es auch rechtswidrig, weil es in Italien von Rechts wegen irgendeine Form von Urteil geben muss. Damit würde auch der politische Einfluss immer größer.
derStandard.at: Warum ist man damit einer größeren politischen Einflussnahme ausgesetzt?
Vito Monetti: Weil damit beeinflusst werden kann, dass ein Prozess sich in die Länge zieht. In dem Moment, wo die Urteilsverkündung nicht mehr gesetzliche Pflicht ist und wo nicht mehr die Staatsanwälte und Richter darüber wachen, sondern andere Staatsorgane, liegt die Macht beim Justizministerium und damit bei der Politik. Es gibt bestimmte verfassungsrechtliche Prinzipien, wie die staatliche Gewaltenteilung, die respektiert gehören - vor allem auf europäischer Ebene gibt es ein gemeinsames Verständnis dieser Standards.
Demnach funktioniert auch unser "Consiglio Superiore della Magistratura" (ein Aufsichtsratorgan über Richter und Staatsanwälte, Anm.): Dieses Organ besteht zur Zeit zu zwei Dritteln aus von den Richtern und Staatsanwälten bestellten Mitgliedern und zu einem Drittel aus von der Regierung bestellten Mitgliedern. Laut Aussagen von Regierungsmitgliedern wollen sie das Verhältnis jetzt drehen. Damit wäre also der Großteil von der Politik gewählt. Die Standards, die ich gerade erwähnt habe, würden vorsehen, dass solche Einrichtungen vor zu starkem politischen Einfluss geschützt werden.
derStandard.at: Selbst Kammerpräsident Gianfranco Fini (Alleanza Nazionale) hat den Premier bei dessen Angriffen zur Mäßigung gemahnt.
Vito Monetti: Man wird auf der Universität bereits im ersten Jahr mit dem "ad personam"-Gesetz konfrontiert, also mit der personen- oder anlassbezogenen statt der generellen Rechtsprechung. Und bereits im ersten Jahr wird den Studenten gesagt, dass ein solches Gesetz eigentlich keines ist, dass es also die Bezeichnung "Gesetz" nicht verdient.
derStandard.at: Welche Reformen bräuchte es Ihrer Meinung nach, wo liegt das Hauptproblem?
Vito Monetti: Das gröbste und wirklich sehr ernste Problem im italienischen Rechtssystem ist die Verfahrensdauer: Die Verjährungsfrist läuft in Italien ab dem Moment, wo der Prozess beginnt, also ab dem Zeitpunkt, wenn die Voruntersuchungen vorbei sind. Damit stellen wir die Ausnahme in Europa. Ein Delikt kann in Italien verjähren, obwohl der Prozess begonnen hat.
Um es zu verdeutlichen: Am Kassationsgericht haben wir eine Abteilung, die wir "filtro" ("Filter") nennen. Diese Kollegen haben einzig und allein die Aufgabe, die Berufungsgründe zu überprüfen. Man prüft die Gründe, informiert beide Seiten und dann wird öffentlich darüber debattiert. Dadurch passiert es manchmal, dass Berufungen zurückgezogen werden.
So haben wir es geschafft, dass 40 Prozent der Berufungen zurückgezogen wurden. Das ist gut, aber wir haben noch immer unzählige eingebrachte Berufungen am Kassationsgericht. Dieser Rechtsweg wird in Italien exzessiv ausgenützt. Ein Anwalt muss natürlich alles nützen, was ihm der legale Rechtsstaat anbietet, aber das jetzige Justizsystem blockiert alles. Das ist inakzeptabel. Außerdem widerspricht es Artikel 6 der EU-Menschenrechtskonvention, laut dem jeder ein Recht auf ein faires Verfahren hat.
derStandard.at: Die Reform höhlt das Justizsystem also aus?
Vito Monetti: Ein Problem ist ganz generell, dass Richter besser und effektiver arbeiten sollten. Zum Vergleich: Ein paar Kollegen von mir waren neulich bei einem Seminar in den Niederlanden und sind erstaunt zurückgekommen. Die niederländischen Richter schreiben die Urteilsbegründung nicht selbst, das übernimmt eine Gruppe Experten - meist junge Personen -, über die die Richter mit großer Aufmerksamkeit wachen. In Italien machen Richter alles selbst.
Eine weitere Änderung, die erstrebenswert wäre: Alle Richter sollen Computer verwenden, damit alles gespeichert werden kann. In der Regel sind Urteilssprüche handschriftlich verfasst.
derStandard.at: Italien hat eine riesige Armee an Anwälten, die ihr Geld mit vielen Bagatellfällen verdienen, die möglichst lange vor Gericht verhandelt werden. Allein in Rom sind es rund 200.000 Anwälte, mehr als in ganz Frankreich. Ist das mit ein Teil des Problems?
Vito Monetti: Ja, sicher. Einerseits haben wir viel zu viele Gerichte, die aber zu klein sind - was absolut irrational ist, weil zu kleine Gerichte nicht funktionieren und damit eine einzige Verschwendung von Energien sind. Auf der anderen Seite haben wir zu viele Anwälte. Aber das ist nun einmal die reale Situation, vor allem wenn es eine Wirtschaftskrise gibt und die junge Generation keinen Job findet.
derStandard.at: In Italien vergleicht der Regierungschef die Verfahren gegen ihn mit Erschießungskommandos, hält die Justiz für das "Krebsgeschwür der Demokratie" und bezeichnet die Richter als "Taliban". Kann man in diesem Job überhaupt noch motiviert sein?
Vito Monetti: Wir sind eher besorgt, nicht deprimiert.
derStandard.at: Zehntausende Demonstranten sind Ende Februar aufgrund der geplanten Änderungen im Justizsystem auf die Straße gegangen. Von Mailand bis Palermo protestierten Richter und Staatsanwälte, sodass italienische Medien von einem "Krieg zwischen Justiz und Regierung" gesprochen haben. Sie sehen das anders?
Vito Monetti: Ich würde es nicht Krieg nennen. Aber sicher gibt es zwei grundverschiedene Sichtweisen, die auf beiden Seite radikal vertreten werden.
derStandard.at: Sie waren Generalstaatsanwalt während des Prozesses gegen Nicola Cosentino, einem Parteikollegen Berlusconis, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, dem die Staatsanwaltschaft in Neapel Kontakte zur Camorra, zur neapolitanischen Mafia, vorwirft ...
Vito Monetti: Ich vertrete die Philosophie, dass ich Prozesse, an denen ich beteiligt bin oder war, nicht kommentiere.
derStandard.at: Dann allgemein gefragt: Gehört der Kontakt zur Mafia für Politiker in Italien mittlerweile zum Geschäft?
Vito Monetti: Das Problem ist, dass Politiker Notwendigkeit und Interesse haben, Zustimmung zu erlangen. Um an Wählerstimmen zu kommen, ist es notwendig, Kontakt zu den Wählern zu haben. In bestimmten Regionen Italiens aber vermischen sich diese Kontakte oft mit kriminellen Kräften.
derStandard.at: Cosentinos Kontakt war so gut, dass er als "Kandidat der Camorra" bezeichnet wurde, als er für die Regionalwahlen im vergangenen März in Kampanien antreten wollte.
Vito Monetti: Ja, das wurde in den Medien so gesagt. Mittlerweile ist es sogar schon so weit gekommen, dass Politiker nicht einmal unbedingt diese Kontakte negieren, sondern einfach flexibler in ihrer Wortwahl sind.
derStandard.at: Ist die Verfolgung von Mafia-Mitgliedern schwieriger geworden unter Berlusconi, nachdem eine Reihe Anti-Mafia-Gesetzte zurückgenommen beziehungsweise aufgeweicht wurden?
Vito Monetti: Der Kampf gegen sie kann nicht nur auf juristischem Weg erfolgen. Es ist natürlich immer wichtig, dass es auf juristischer Ebene klare Zeichen und Reaktionen gibt, aber das darf nicht das einzige sein. Es muss auf allen Ebenen darüber nachgedacht werden, wie man dagegen ankämpfen kann.
derStandard.at: Der Chef der neapolitanischen Polizei-Eingreiftruppe "Squadra mobile" sagte im Oktober vergangenen Jahres, Roberto Saviano brauche keinen Polizeischutz mehr, es gebe genug italienische Polizisten und Staatsanwälte, die in ihrem Kampf gegen die Camorra eine Eskorte nötiger hätten. Was für eine Art Zeichen ist das?
Vito Monetti: Das ist ein furchtbares, völlig inakzeptables Zeichen. Selbst wenn es wahr wäre, dass er keinen Schutz braucht, dann ist das letzte, was passieren darf, dass man das öffentlich sagt.
derStandard.at: Sind die Italiener dazu übergegangen, die Mafia als ein Problem einzelner Staatsanwälte und Polizisten zu sehen?
Vito Monetti: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Es stimmt, manche haben fast schon resigniert, so, als wäre das ein Phänomen, gegen das man nicht ankämpfen kann. Aber es gibt auch andere Geschichten: Rosarno zum Beispiel. Vor kurzem erst wurden eine Reihe Personen festgenommen, die hinter dieser furchtbaren Geschichte stecken (derStandard.at berichtete). Das hat nur geklappt, weil gegen sie ausgesagt worden ist.
derStandard.at: Gerade in Rosarno waren es doch die Migranten, die sich über den "pizzo" (Schutzgeld an die Mafia) beschwert haben. Das waren die Aussagen der Migranten, nicht der Italiener.
Vito Monetti: Ja. Personen, die tatsächlich den Mut und die Kraft aufbringen, sich aufzulehnen, sind limitiert. Das Land ist sehr oft in zwei Hälften geteilt. (Anna Giulia Fink, derStandard.at, 5.5.2010)