"Die Lebensfreude, die Lebenslust überwiegen": Friederike Mayröcker mit Selbstporträt.

Zur Person:
Die österreichische Autorin Friederike Mayröcker (85) hat weit über 50 Buchtitel veröffentlicht, in denen sie Einsichten der modernen, "experimentellen" Literatur mit einem universalpoetischen Anspruch verbindet.

Der biografische Filmessay "Das Schreiben und das Schweigen" von Carmen Tartarotti ist ab 7.5. im Wiener Stadtkino zu sehen. Der neue Prosaband der Georg-Büchner-Preisträgerin, "ich bin in der Anstalt", erscheint in Bälde bei Suhrkamp.

Foto: Stadtkino

Im Gespräch mit Ronald Pohl eröffent Mayröcker Einblicke in ihre Schreibwerkstatt.

Standard: In Carmen Tartarottis Filmessay "Das Schreiben und das Schweigen" sind Sie bemüht, der Regisseurin im wuchernden Zettelarchiv Ihrer Wohnung ein Plätzchen freizuräumen. Das Leben wird ganz zwanglos von der Schrift zugedeckt. Sind die Alltäglichkeiten des Lebens eine Zumutung, die Ihr Schreiben bedrohen? Zugleich bekennen Sie ja, gerne zu leben, die Wirklichkeit begierig in sich aufzusaugen ...

Mayröcker: Als Allererstes hat Carmen Tartarotti etwas Wunderschönes gemacht: Es ist schon ihr zweiter Film über mich. Wir haben vier Jahre an ihm gearbeitet, immer wieder durch Pausen unterbrochen. Sie hat es auch schwer gehabt mit mir, weil ich zwischendurch immer wieder arbeiten wollte, weil ich zwischenzeitlich zu Lesungen musste oder gesundheitlich nicht auf der Höhe war. Aber sie hat sich immer wieder auf meine Möglichkeiten eingestellt... Aber können Sie Ihre Frage präzisieren?

Standard: Empfinden Sie die Anforderungen des Lebens überwiegend als Zumutung – oder als Stärkung, als Kräftigung Ihrer Schreibarbeit?

Mayröcker: Ich könnte ohne Außenwelt überhaupt nicht schreiben. Ich brauche ganz konkrete Dinge, um sie umzuwandeln. Das war in dem Film auch so ähnlich: Wir waren immer auf der Suche. Es gab diesen Einschub mit dem Fenster vis-à-vis...

Standard: Der Blick aus Ihrer Wohnung im 4. Wiener Gemeindebezirk auf das Fenster im Innenhof, dessen Anblick Sie zu Gedichten inspiriert.

Mayröcker: Da konnte ich hinübersehen in eine zu Zeiten unbewohnte Wohnung: Das hat mich so aufgeregt! Im Fenster waren Blumen, Geräte, Gefäße... Einmal, das hat mich sehr bewegt, standen da Schuhe. In das Fenster eingehakt war eine Jeans, zum Trocknen aufgehängt. Solchen Dingen sind wir nachgegangen.

Standard: Die Regisseurin hat sich mit Ihnen auf eine Spurensuche eingelassen?

Mayröcker: Dann hat sie mich gebeten zu lesen: die Fenster-Gedichte.

Standard: Suggeriert diese Stelle des Films ein Geheimnis? Wir nehmen teil an der Übertragungsarbeit, die Poesie leistet.

Mayröcker: Ich bin in meinem Schreiben nur auf der Suche nach konkreten Dingen.

Standard: Das Etikett der "experimentellen Dichtung", das man Ihnen anhängt, ist längst überholt?

Mayröcker: Es hat angefangen mit meinem Prosabuch "brütt" (1998): Mein Schreiben wird immer konkreter, und im Konkreten immer radikaler.

Standard: Ihr neues Prosabuch "ich bin in der Anstalt" besteht ausschließlich aus fortlaufend numerierten Fußnoten zu einem "nichtgeschriebenen Werk". Wie hätte man sich dieses nichtgeschriebene Buch vorzustellen?

Mayröcker: Wenn man mein Buch gelesen hat, ist es ja doch ein Buch - ein Paradoxon! Die Idee dazu hat mir der italienische Germanist und Freund Luigi Reitani eingegeben. Ich erzählte ihm, ich wolle wieder einmal ein Buch mit Fußnoten schreiben, die Idee verfolgt mich schon seit Jahrzehnten. "Das solltest du machen", sagte er: "Du brauchst nichts anderes zu tun, als Deine Konkreta zu schreiben und sie zu numerieren!" Ich äußerte meine Befürchtung, dass dies doch etwas schmalspurig sei. Da sagte er: "Du kannst doch Fußnoten zu einem Buch schreiben, dass es nicht gibt!"

Standard: Dieses Buch wäre dann das geheimnisvolle Buch Stephane Mallarmés: das universalpoetische Buch, das buchstäblich alles enthielte? Und das es nicht geben kann? Wobei Sie eigentlich immer mit Zitaten gearbeitet haben: solchen, die sie in Montagen verarbeitet haben – oder eben Scheinzitaten.

Mayröcker: Das sind zum Teil Selbstzitate. Solche, die in einem anderen Buch von mir vorkommen.

Standard: Wäre Ihre Poesie damit nicht der Triumph über jede natürliche Zeitenfolge? Sie entnehmen Ihrem Fundus ältere und älteste Textpartikel und fügen Sie in eine aktuelle Arbeit ein?

Mayröcker: Es gibt keine Hierarchie: Es ist immer alles gleichzeitig da, die Gegenwart und die Vergangenheit, und vielleicht ein Blick in die Zukunft.

Standard: Ihre Bücher aus den letzten Jahren thematisieren die Last des Alters. Zugleich verströmen Ihre Texte eine beinahe mädchenhafte Freude am Leben. Überwiegen die Lustgefühle die Beschwerlichkeiten?

Mayröcker: Mit zunehmendem Alter sind die Beschwerlichkeiten zu spüren. Die Lebensfreude, ich würde fast sagen: die Lebenslust überwiegen. Ich verspüre dann so einen Lebenshunger. Ich möchte noch lange leben – und dabei geistig frisch bleiben. Man wird sehen, ob mir das gelingt. Es ist ja so: Jedes Jahr ist der Frühling ganz neu – der war noch nie da. Das allein macht einen schon glücklich. Man ist neugierig: Was kommt jetzt? Ich bin gespannt auf die ersten Fliederbüsche. Es ist eine große Nähe zur Natur bei mir.

Standard: Sie sind ein Frühlingsmensch?

Mayröcker: Ja.

Standard: Lesen Sie viel? Exzerpieren Sie aus fremden Texten? Der Philosoph Jacques Derrida spielt eine große Rolle in Ihrem neuen Buch.

Mayröcker: Der verfolgt mich schon lange. Vor ein paar Jahren las ich "Die Postkarte": ein Buch, das mich entzückt und aufgeregt hat. Jetzt lese ich – auch schon seit ein paar Jahren – "Glas" von ihm, das französische Wort für "Totenglocke". Darin ist Jean Genet sehr oft zitiert. Eine tolle Kombination. Während des Schreibens las ich sehr viel in "Glas".

Standard: Und neben der Arbeit an Ihren Prosabüchern reißt der Strom an Gedichten nicht ab? Kann man sagen: Gedichte sind für Sie eine Lebensform?

Mayröcker: Ja, das kommt immer wieder und geht. Dazwischen ist es immer wieder die Prosa. Ich kann kaum Prosa und Gedichte zweigleisig machen. Ich kann mich nur entweder auf das eine oder das andere konzentrieren.

Standard: Und Sie legen unvollendete Gedichte ab und arbeiten später an ihnen weiter?

Mayröcker: Das nicht. Es ist fertig – oder ich muss mich damit abfinden, dass das Gedicht nichts geworden ist.

Standard: Das gibt es?

Mayröcker (lacht): Ja. Gedichteschreiben unterscheidet sich vollkommen vom Prosaschreiben.

Standard: Wann gelangen Sie zu der Ansicht: Dieses oder jenes Gedicht rundet sich nicht – oder besitzt nicht den geforderten Atem?

Mayröcker: Für mich heißt es immer: Stimmt es, oder stimmt es nicht? Gottseidank stimmt es meistens. Wenn das Gedicht nicht stimmt: Weg damit! Dann tröste ich mich mit dem Gedanken: Vielleicht geht es morgen.

Standard: Werden Sie verzagt, wenn Ihrer Meinung nach etwas nicht "stimmt"?

Mayröcker: Eigentlich nicht. Ich finde mich damit ab. Meistens habe ich früher im Sommer nicht geschrieben. Wenn ich mit Ernst Jandl zusammen Urlaub gemacht habe, etwa in Rohrmoos, saß er und schrieb, und ich bin in die Natur hinausgegangen.

Standard: Man schreibt also aus Mangel – nicht, wenn man glücklich ist?

Mayröcker: Man schreibt aus Wehmut, aus Trauer, aus Unglücklichsein. Aber auch aus gegenteiligen Fakten: Wenn man die Natur einsaugen kann, dann muss sie auch wieder heraus. Wenn es einem gut geht, wenn man ausgesprochen glücklich ist, dann kann man nicht schreiben.
(DER STANDARD, Printausgabe, 7.5.2010)