ZUR PERSON: Der Politologe Michael Bruter lehrt an der renommierten London School of Economics europä-ische Politik. Gleichzeitig forscht er zu Themengebieten wie Wahlverhalten und Entwicklung der öffentlichen Meinung.

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DER STANDARD: Was müssen die ersten Schritte der neuen Regierung sein?

Bruter: Eine Priorität wird sein zu entscheiden, wie mit der (Wirtschafts-)Krise umzugehen ist, vor allem wie die öffentlichen Ausgaben gekürzt werden können, ohne dass es zu einem sozialen Desaster kommt. Zweitens: Wie mit der institutionellen Kritik umzugehen ist. Den Menschen ist klargeworden, dass das derzeitige Wahlsystem unfaire Ergebnisse produziert und geändert werden muss.

DER STANDARD: Ist eine Änderung des Wahlrechts unumgänglich?

Bruter: Für die neue Regierung wird es schwer zu argumentieren, dass das Wahlsystem fair ist. Es gibt ein Momentum. Alle drei Parteien haben sich über die Auswirkungen des Wahlsystems beklagt. Es wäre also schwierig, gar nichts zu tun.

DER STANDARD: Keine der Parteien hat bisher ein detailliertes Konzept für die Bekämpfung der Wirtschaftskrise vorgelegt.

Bruter: Das Rennen war so knapp, dass alle drei großen Parteien Angst hatten, Wähler abzuschrecken, wenn sie Details veröffentlicht hätten, wer verlieren wird. Es gab wahrscheinlich auch unrealistische Statements vonseiten der Konservativen und der Labour-Partei. Es gibt aber eine breite Erwartung in der öffentlichen Meinung, dass es trotz der optimistischen Botschaften der beiden großen Parteien sehr schmerzhafte Entscheidungen der neuen Regierung geben wird.

DER STANDARD: Die Bevölkerung weiß also, was auf sie zukommt?

Bruter: Nicht wirklich. Einer der Gründe ist, dass es davon abhängt, ob die Krise hinter uns liegt - oder ob sie womöglich in eine noch tiefere Rezession führt.

DER STANDARD: Können zentrale Reformen der Labour-Regierung wie die im nationalen Gesundheitssystem NHS aufrechterhalten werden?

Bruter: Alle drei Hauptparteien hatten versprochen, dass sie die Sozialleistungen wie jene des NHS nicht kürzen werden. Wenn gespart werden sollte, dann in der Verwaltung. Aber um ehrlich zu sagen: Wenn man sich zum Beispiel das Programm der Konservativen anschaut, dann scheinen die Einsparungen, die sie versprochen haben, ohne noch viel weitreichendere Kürzungen kaum machbar zu sein.

DER STANDARD: Der Star des Wahlkampfs, der Li-_beraldemokrat Nick Clegg, ist deklarierter EU-Befürworter. Verändert sich das Verhältnis der Briten zum Kontinent?

Bruter: Der Durchschnittswähler ist weiterhin sehr euroskeptisch. Doch eigentlich polarisiert die europäische Frage die britische Bevölkerung. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung hält die europäische Integration für eine sehr gute Sache. Der Erfolg von Nick Clegg ist auch ein Zeichen dafür, dass es in der britischen Gesellschaft verschiedene Schichten gibt, die sehr unterschiedliche Bestrebungen haben - was Europa betrifft, den internationalen Charakter der Gesellschaft, den Kampf gegen Armut, Bürgerrechte, et cetera.

DER STANDARD: Wie steht es um das Verhältnis zu den USA? Die „besondere Beziehung" war immer wichtig, aber es hat in letzter Zeit auch viel kritische Stimmen gegeben.
Bruter: Es geht immer noch das Gespenst des Irakkriegs um. Wenn die Menschen an die ‚special relationship‘ denken, dann verbinden das einige damit, dass das Königreich als Stellvertreter von George W. Bush während des Irakkriegs gesehen wurde. David Cameron ist von allen drei Parteiführern wahrscheinlich der proamerikanischste von allen, aber das wollte er nicht sagen. Nick Clegg ist der kritischste, aber nun weniger, weil Barack Obama für einen großen Teil der Bevölkerung der akzeptablere Führer ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.5.2010)