Gerald Michel Mathurin sieht im Erdbeben auch eine Chance.

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Wien - Für Gerald Michel Mathurin ist die Erdbebenkatastrophe in Haiti auch eine Chance. Der 56-Jährige, der von 1996 bis 1997 Landwirtschaftsminister des Karibikstaates war und heute die NGO Crose leitet, glaubt, dass das Land eine Lektion gelernt hat. "Die Hyperkonzentration der Bevölkerung auf Port-au-Prince war katastrophal. Es ist höchste Zeit für eine Dezentralisierung" , sagt er im Gespräch mit dem Standard. Über die Zukunft müsse es aber rasch Diskussionen geben, andernfalls drohe die Lage explosiv zu werden.

Denn derzeit "läuft der Wiederaufbau nicht transparent. Er liegt nur in den Händen der Regierung, internationaler Organisationen und anderer Staaten." Die Bürger und Betroffenen hätten nur Beobachterstatus, aber kein Stimmrecht bei Entscheidungen.

Verbunden mit der Perspektivenlosigkeit führt das bereits zu ersten Demonstrationen. Denn: Alleine der Wiederaufbau der Wohnungen in der Hauptstadt droht Jahre in Anspruch zu nehmen. Jahre, in denen hunderttausende Menschen in ihren Zeltstädten wohnen bleiben müssen. "Die Menschen fühlen sich nicht vertreten. Die NGOs und ausländische Helfer sind wichtig, um Begleitmaßnahmen zu organisieren und ihr Wissen zur Verfügung zu stellen, aber die Bevölkerung soll auch Verantwortung bekommen."

Mathurin, der auf Einladung der Volkshilfe heute, Freitag, einen Vortrag im Gartenhotel Altmannsdorf hält, will diese Verantwortung auch in den Regionen. Dort seien die Probleme noch größer: Um die Landwirtschaft auf ein Niveau zu bringen, das eine gewisse Selbstversorgung zulässt, würde man zehn Jahre brauchen.

Ob das die Korruption nicht unkontrollierbar macht? "Ich glaube nicht, dass die Gleichung mehr Dezentralisierung, mehr Korruption stimmt. Man braucht allerdings klare Normen und unabhängige Kontrollinstitutionen." Auch internationale?"Nein. Wenn man mit internationalen Organisationen zusammenarbeitet, muss man natürlich Rechnungen vorlegen. Aber es geht auch um das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes." (Michael Möseneder/DER STANDARD, Printausgabe, 7.5.2010)