Wie genau die Relativitätstheorie funktioniert, kann Robert Lepage zwar nicht erklären, aber er findet sie wunderschön. An den (Natur-)Wissenschaften hat den frankokanadischen Theaterregisseur immer mehr deren poetische Oberfläche interessiert. Und faszinierend ist es ja wirklich, wenn Mathematiker sagen: "Diese Formel müssen wir nicht beweisen, weil sie so schön ist. Die Schönheit ist der Beweis."
Diese Formschönheiten der Wissenschaft überträgt Robert Lepage seit zwanzig Jahren auf seine Arbeiten. Der Bub, der sich vor einer Waschmaschinentrommel in eine über dem Mond schwebende Astronautenkapsel hineinträumt (La Face cachée de la Lune) ist legendär geworden. Immer schon hat Lepage den Fortschritt gepriesen und sich auf einzigartige Weise technische Möglichkeiten auf der Bühne zunutze gemacht. Auch seine Faszination für Zahlen hat in vielen seiner Stücke ihren Niederschlag gefunden. Seine allererste Leidenschaft als junger Québécois war aber Geografie; seine Protagonisten sind deshalb immer wieder von großer Reiselust gepackt. Auch in Lipsynch, jener Produktion, die ab kommenden Mittwoch bei den Wiener Festwochen gastieren wird, ist ein Flugzeug Hauptschauplatz.
Leben und Werk sind bei Robert Lepage also direkt miteinander verbunden; aus den ureigensten Interessen und Faibles erschafft er seine Theaterstücke. Den Interviewband zu lesen, den Renate Klett nun herausgegeben hat, ist für ein Lepage-Publikum demnach wie ein großes Rätsellösebuch. Vier lange Gespräche, die die deutsche Theaterkritikerin und ehemalige Festivalleiterin mit Lepage an verschiedenen Plätzen in Europa und Kanada zwischen April 2007 und Juni 2008 geführt hat (Brüssel, Teneriffa und Montréal), lassen teilhaben am vertrauten Tonfall zweier Aficionados. Dabei stellt sie klassische journalistische Sachfragen wie auch freundschaftlich neugierige, die sehr persönliche Themen anschneiden.
Ohne besondere Struktur, aber einigermaßen chronologisch geht Klett an die Sache heran. So dominieren zum Beispiel im ersten Gespräch vor allem die Themen Kindheit, Krankheit und Einsamkeit im kanadischen Québec, vor allem auch das Bewusstsein, als frankofoner Bürger im zweisprachigen Land einer Minderheit anzugehören (siebeneinhalb Millionen Französisch sprechende Menschen inmitten von 300 Millionen Englisch sprechenden).
Ehrgeiz und Obsessionen
In den Gesprächen entstehen direkte Verbindungen zwischen diesem Background und den künstlerischen Arbeiten Lepages, beginnend als Schauspieler im Théâtre Hummm bis hin zu seinen großen Inszenierungen, La Trilogie des dragons Mitte der 1980er-Jahre und Les Sept Branches de la rivière Ota ein Jahrzehnt danach, die weltweit seinen Ruhm begründet haben. Das bringt einiges über Arbeitsmethoden bzw. Ursprung und Entstehungsgeschichte einzelner Produktionen zutage.
Der vorgeblich scheue Regisseur (auch von Filmen und Opern bzw. einer Las-Vegas-Show) entpuppt sich als offenherziger Gesprächspartner, der über seinen Ehrgeiz und seine Obsessionen bereitwillig spricht ("Was interessiert dich noch außer Theater und Reisen? - Sex!" ), zugleich aber den vor allem im eigenen Land grenzenlosen Ruhm um ihn und seine Gruppe Ex Machina auch kritisch sieht ("Du könntest die größte Scheiße machen, und sie würden Bravo rufen." ).
Dem Band liegt die DVD des Films Die andere Seite des Mondes von Robert Lepage bei. Dieser war 2005 der Oscar-Beitrag Kanadas. (Margarete Affenzeller, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 08./09.05.2010)