Europa befindet sich an einem "kritischen Punkt seiner Existenz und wird in den kommenden zwanzig Jahren um seinen Einfluss in der Welt kämpfen müssen." Zu diesem Befund kommt der "Weisenrat" - eine Reflexionsgruppe aus zwölf Experten und angesehenen Ex-Politikern - in seinem jüngsten Bericht an den Europäischen Rat.
Die Diagnose ist nicht unmittelbarer Ausfluss der Euro-Krise. Die Gruppe unter der Führung des früheren spanischen Premierministers Felipe González hatte vielmehr den Auftrag, langfristig darüber nachzudenken, wo in Europas Gesellschaften strukturelle Schwächen liegen, was getan werden muss, damit Wohlstand, Arbeit, Frieden, Sozialleistungen erhalten werden können, wie es mit der Union weitergehen könnte.
Ein Jahr lang haben die Weisen, unter ihnen der österreichische Bevölkerungswissenschafter Rainer Münz, sich darüber den Kopf zerbrochen. Dass sie ihren 35 Seiten starken Bericht am Samstag in Brüssel ausgerechnet zwischen dem Krisengipfel der Staats- und Regierungschefs der Eurostaaten und dem Europatag am 9. Mai (dem Tag, an dem mit der Schuman-Erklärung die Basis zur EU gelegt wurde) präsentierten, war Zufall. Vor genau sechs Jahrzehnten war es um die Zusammenlegung von deutscher und französischer Schwerindustrie gegangen, um Europa zu befrieden. Heute, erklärt Münz im Gespräch mit dem Standard, gehe es um "zwei wesentliche Entwicklungen: In Europa wird es immer weniger Menschen geben, die im Schnitt auch wesentlich älter sein werden als heute. Und es wird junge, aufstrebende Nationen wie Indien, Brasilien und China geben, die einen großen Teil des Wirtschaftsproduktes der Welt erwirtschaften."
Für Europa gehe es "weniger um eine Verbesserung, sondern ob wir den Wohlstand überhaupt halten können". González zeigte sich diesbezüglich besorgt, weil es an Reformwillen fehle. Münz sagt: Die Zeit starken "automatischen" Wachstums nach dem Krieg sei für längere Zeit vorbei, "unsere alternde Gesellschaft muss sich also etwas einfallen lassen".
Der Weisenrat macht dazu einige Vorschläge: deutlich stärkere Investitionen in Bildung und Ausbildung, Forschung und Entwicklung; "grüne" Industrie. Nur so werde es gelingen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, ältere Menschen später in die Pension zu schicken, "es wird einen neuen Arbeitsmarkt für Ältere geben müssen", sagt Münz. Es müssten mehr Frauen in den Arbeitsprozess kommen, und "wir brauchen eine proaktive Einwanderungspolitik". Nur so ließen sich Pensions- und Sozialsysteme finanzieren.
Ein Schlüssel für das alles sei aber eine entschlossene weitere Integration Europas. So werde man sich behaupten können. Münz glaubt, dass der Rückzug auf regionale oder nationale Lösungen sogar ein gefährlicher Irrtum wäre, weil die Probleme nur in größerem Rahmen lösbar seien. Ob dies gelinge, oder zuerst Absturz und Krise kämen, werde die Geschichte zeigen. (tom, DER STANDARD, Printausgabe, 10.5.2010)