ESRA-Geschäftsführer Peter Schwarz: "Für manche ist der Rechtsruck eine persönliche Bedrohung. Wir sind nun mal sensibilisiert für die Menschenverachtung im politischen Sprachgebrauch, aber die Massenmedien sind es nicht."

Foto: Mascha Dabic

Die Tempelgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist nach dem Leopoldstädter Tempel benannt. Diese im 19. Jahrhundert errichtete Synagoge wurde im Zuge des Novemberpogroms 1938 zerstört. Heute befindet sich an dieser Stelle das Zentrum ESRA. Der Name ist Programm: "Esra" bedeutet auf Hebräisch Hilfe. Die Rede ist von psychiatrischer und sozialtherapeutischer Unterstützung für Menschen, die an den Spätfolgen des Holocaust- und Migrationssyndroms leiden. Das sind großteils Juden, aber auch andere Menschen, die vom NS-Regime verfolgt wurden, wie etwa Roma und Sinti, Spiegelgrund-Überlebende und andere politisch Verfolgte.

Schweigen in den Familien

Gerda Netopil koordiniert die soziale Arbeit des Zentrums. Die Ambulanz hat sich einem multidisziplinären und ganzheitlichen Zugang verschrieben: Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter und Krankenschwestern arbeiten im Haus, sodass die Menschen, die sich zu einer Therapie entschließen, an einer Stelle umfassend versorgt sind. "Es ist nicht leicht, die Menschen zu einer Therapie zu motivieren", erzählt Netopil. "Die meisten KZ-Überlebenden haben mit ihren Angehörigen nie über ihre Erlebnisse gesprochen. Das Schweigen in der Familie hat für die Nachkommen der Überlebenden komplexe Auswirkungen." Etwa seien Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen zu beobachten, gehäufte Konflikte würden sichtbar.

Viele ESRA-Klienten sind sehr betagt und müssen mit einer Mindestpension auskommen: "Die NS-Verfolgung war auch ein Bruch in der Erwerbsbiographie, viele Menschen konnten auch später kein normales Einkommen erzielen und eine bessere Pension erwirtschaften. Da ist sehr viel Therapie notwendig, um die Situation stabil zu halten", erzählt Netopil. Ein großes Problem sei die Einsamkeit: "Wir haben es oft mit alleinstehenden Damen zu tun, die schwer traumatisiert wurden, und deren Angehörige umgekommen sind oder in der ganzen Welt verstreut leben."

Israel als Symbol für einen sicheren Zufluchtsort

ESRA-Geschäftsführer Peter Schwarz fügt hinzu, dass viele in Europa lebende Juden Verwandte in Israel hätten und die Entwicklungen im Nahen Osten genau verfolgen würden. "Israel wird eine symbolische Bedeutung als sicherer Zufluchtsort zugeschrieben. Auch Juden, die der israelischen Politik gegenüber kritisch eingestellt sind, sehen Israel als das Land, wo man hin kann, sollte wieder etwas passieren", erklärt Schwarz. Paradoxerweise ist gerade Israel ein Land, in dem kriegerische Auseinandersetzungen fast schon zum Alltag gehören.

Die auffällig hohen Sicherheitsvorkehrungen des ESRA-Zentrums erklärt Peter Schwarz so: "Sicherheitsfachleute nehmen eine Einschätzung des Bedrohungspotenzials vor, und dabei wird berücksichtigt, was bereits passiert ist. In Wien gab es in den Achtziger Jahren Anschläge, bei denen die Gemeinde sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde, es gab Tote. Seitdem wurden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Es ist sehr schwierig, solche Maßnahmen wieder rückgängig zu machen, niemand will leichtfertig agieren."

Polarisierung und Enttabuisierung

Derzeit sieht sich ESRA keiner akuten Bedrohung ausgesetzt. Dennoch gäbe es Statistiken, die einen steigenden Antisemitismus in Österreich konstatieren, erzählt Schwarz. "In der öffentlichen Debatte findet seit Waldheim und Haider eine zunehmende Polarisierung und Enttabuisierung statt. Das betrifft nicht nur die Juden, sondern auch andere Gruppen in der Gesellschaft. Spitzenpolitiker können hierzulande menschenverachtende Kommentare abgeben, ohne dass das Sanktionen oder auch nur Konsequenzen hätte." Auch Rosenkranz sei selbstverständlich ein Thema für die jüdische Gemeinde gewesen. "Für manche ist der Rechtsruck eine persönliche Bedrohung. Wir sind nun mal sensibilisiert für die Menschenverachtung im politischen Sprachgebrauch, aber die Massenmedien sind es nicht."

Von der österreichischen Politik erwartet sich Schwarz die Bereitschaft, Restitutionsfragen über die finanzielle Entschädigung hinaus zu diskutieren. "Es geht darum, die Geschichte anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen, dass in diesem Land jüdische und andere Mitbürger verfolgt wurden."