Durch Raum und Zeit mit Robert Lepage: drei (bzw. vier) von insgesamt neun lose miteinander verbundenen Protagonisten im Episoden-Marathon "Lipsynch" , zu Gast bei den Wiener Festwochen.

Foto: Festwochen

Standard: Wörter stehen, zumindest in der europäischen Tradition, am Beginn jeden Theaters. Ihr Zugang war stets ein anderer. Der Text ist nachrangig. Bei "Lipsynch" aber geht es um Wörter. Was war der Ausgangspunkt?

Lepage: Stimmt, normalerweise interessieren mich am Theater Stimme, Geräusch und Musik viel mehr als gesprochene Worte. Im Fall von Lipsynch war das anders, da haben Worte mehr Gewicht als sonst in meinen Arbeiten. Es ist ein Stück über die Stimme, aber auch über die Sprache und die Rede. Lipsynch ist keine neue Richtung, die wir einschlagen, es ist eher wie eine "Ringstraße" , eine seltsame Weiterführung unserer bisherigen Arbeiten. Trotz seiner visuellen Kraft und der Bedeutung von Musik und Geräuscheffekten ist es eine für uns eher ungewöhnliche Arbeit. Beim Thema Sprache kann man Wörter eben nicht zur Gänze evakuieren.

Standard: Sie selbst reisen gerne, auch Ihre Protagonisten sind oft "on the road" . Vor allem aber touren Ihre Produktionen jahrelang um die Welt. Welche kreativen Auswirkungen hat dieses Reisen auf die Arbeit?

Lepage: Es passiert so viel mit unseren Arbeiten auf Tour. Im Fall von Lipsynch haben wir vor allem aus den Übersetzungen gelernt. Wir dachten, wir sollten manche Szenen ein wenig mehr französisch bringen. Aber das Französische ist mit bestimmten Andeutungen verbunden. Und als wir das Ganze dann wieder retour übersetzt hatten, sowohl ins Englische als auch fallweise ins Deutsche, hat der Text ziemlich profitiert.

Standard: Wie hat sich "Lipsynch" seit seiner Premiere 2007 entwickelt? Haben sich Dinge grundsätzlich geändert?

Lepage: Es hat sich radikal verändert. Grundlegende Ideen und Figuren blieben erhalten, aber im Prinzip haben wir das Storyboard verdoppelt: von vier, fünf Stunden auf nun neun. Es kamen Figuren hinzu und ganze Szenen. Einst undeutliche Ideen sind mittlerweile deutlich geworden. Man muss sich das vorstellen wie bei einer Schlange, die sich häutet. Wir werfen alte Haut ab und gewinnen eine neue.

Standard: Naturwissenschaften haben Sie schon seit jeher interessiert, siehe "The Far Side Of The Moon" . Sie beobachten sicher alle neuen technologischen Entwicklungen, Schlagwort "virtuelle Welt" . Beeinflusst das Ihre Arbeit?

Lepage: Unbedingt. Ich interessiere mich sehr für das Ineinandergreifen von verschiedenen Welten, also für Dinge, die scheinbar nicht zusammengehören, die aber zusammen einen neuen Wert ergeben. All diese neuen Technologien bringen neues Vokabular und neue Werkzeuge mit sich, die uns Geschichten anders erzählen lassen. Die Dramen sind die gleichen geblieben, interessant ist dabei, wie sehr sich die Art des Erzählens verändert. Wir leben in einer technologisch besessenen Welt, einer Welt der Kommunikation, das wirkt sich auf Erzähltechniken aus, auch auf der Bühne.

Standard: Sind Sie immer noch ein Verteidiger des Fortschritts?

Lepage: Ja, ziemlich. Es ist spannend, was Leute mit den Errungenschaften anfangen. Es ist eine Frage der Balance. In Japan etwa genießen Menschen hinter der Bühne, also die technische Belegschaft, genau die gleiche Wertschätzung wie die auf der Bühne: Licht und Schatten, es gehört zusammen. Das finde ich wichtig.

Standard: "The Andersen Project" , 2009 in Wien zu sehen, hat mit einer Mischung aus Traurigkeit und erlösender Schönheit überzeugt. Wollen Sie dem Publikum Leichtigkeit ("Lightness" ) vermitteln?

Lepage: "Lightness" im Sinn von Illumination, Erhellung. Menschen sehnen sich danach, sei es durch Drogen oder was auch immer. Alles ist mit Erhellung verbunden, ob in einem Film oder in einem Theater von Bob Wilson. Illumination kann auch von einer starken, hypnotisierenden Geschichte ausgehen.

Standard: Haben Sie Angst, einmal an einen Punkt zu geraten, an dem Sie nichts Neues mehr entdecken?

Lepage: Nein, davor fürchte ich mich nicht. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Ich mag keine vorformulierten Rezepte und suche ständig. Ich habe allerdings ein klar definiertes Vokabular, eine Ausdrucksform gefunden, die mich mit den Jahren auch einengen. Deshalb versuche ich, Neues auszuprobieren. Ich renne also, so gut ich kann, vor dem Repertoirebetrieb davon. Ausgenommen in der Oper.

Standard: Sie arbeiten derzeit an einem "Ring" an der Met. Fühlen Sie sich in so großen Institutionen also nicht mehr beengt?

Lepage: Im Vergleich zu allen anderen Opernproduktionen steht mir an der Metso viel Zeit zur Verfügung. Nicht das Geld macht alles möglich, der große Reichtum ist die Zeit! Die Met hat sich bereiterklärt, die von uns gewohnten Arbeitsbedingungen zu gewähren, also über mehrere Jahre an einem Projekt zu arbeiten. Und je länger es nun geht, umso mehr Vertrauen entsteht zwischen der Direktion und mir. Es ist ein fairer Deal. Es sind sehr gute Bedingungen. So etwas hätte ich vor zehn Jahren bestimmt nicht gesagt.

Standard: Könnte man Ihre Arbeiten als eine Art theatralisches 3-D-Kino beschreiben?

Lepage: Das könnte man. Ich war immer fasziniert davon, wie die aufgezeichnete Welt mit der nichtaufgezeichneten, spontanen 3-D-Welt des Theaters zusammenläuft. Und wie bei diesem Zusammenprall etwas Drittes entsteht. Mit der Zeit ist mir an meinen Arbeiten aufgefallen, dass der Aktionsraum für die Schauspieler jeweils ziemlich begrenzt ist. Die Szenen sind zwar groß entworfen, aber die Bühne geht nie in die Tiefe. Als wäre sie eine Leinwand. Das Theater wird sich in diese Richtung entwickeln. Auch der Film nähert sich dem Theater an. Die Technologien helfen dabei.

(Margarete Affenzeller, DER STANDARD/Printausgabe, 12.05.2010)