Vor sich auf dem Tisch hat Muriel Cornelis eine Karte ausgebreitet. Sie zeigt die Zentralafrikanische Republik, ein Stück Land mitten im Herzen Afrikas, und dort verteilt viele bunte Punkte: die Einsatzgebiete von Hilfsorganisationen, theoretisch. Tatsächlich haben sich aus dem Norden und Nordosten längst alle Helfer zurückgezogen. Zu Recht, sagt die Direktorin der Humanitären Abteilung der EU-Kommission im Land. "Die Lage dort ist unvorhersehbar und explosiv, wir wissen heute nicht, was morgen passiert."
Seit Wochen kämpfen Armee und Rebellen der Demokratischen Front des Zentralafrikanischen Volkes (FDPC) wieder gegeneinander. Tausende sind aus ihren Dörfern geflohen, gut eintausend Zentralafrikaner wurden alleine in den vergangenen Tagen vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) im Süden Tschads registriert. "Die lokale Bevölkerung wird von allen Konfliktparteien vertrieben, von Rebellen, von Regierungssoldaten oder schlicht von Banditen" , sagt Annette Rehrl, UNHCR-Sprecherin im Süden Tschads. Ihren Zahlen zufolge leben 70.000 zentralafrikanische Flüchtlinge im Tschad, dazu kommen geschätzte 330.000 Vertriebene im eigenen Land.
Die Krise in der Zentralafrikanischen Republik, wo auf einer Fläche Frankreichs und Belgiens gerade einmal vier Millionen Menschen leben, ist eine humanitäre Tragödie auf Raten. Vor eineinhalb Jahren, als fünf Rebellengruppen und die Regierung des Putschisten François Bozizé sich auf einen "nationalen Dialog" einigten, schwiegen die Waffen für ein paar Monate. Doch bald wurde wieder gekämpft, konstatiert Edward Dalby von der International Crisis Group. "Die jüngste Gewaltwelle geht auf das Konto einer Rebellengruppe, in der es keinerlei Disziplin mehr gibt" , so Dalby. "Die Rebellen haben aus Frust über den verschleppten Friedensprozess damit begonnen, willkürlich Menschen zu entführen und zu foltern."
Dass die wenigen, unterbezahlten und zudem schlecht ausgerüsteten Regierungssoldaten den Rebellen tatsächlich Einhalt gebieten können, hält Dalby für unwahrscheinlich. Selbst die Truppen der UN-Mission Minurcat scheinen hilflos: Ende November wurden zwei französische Helfer entführt, obwohl sie Geleitschutz von Minurcat-Soldaten hatten. Die tschadische Regierung möchte die Mission ohnehin am liebsten aufgelöst sehen. So unsicher ist das Land, dass das Parlament gerade erst die für Ende des Monats geplanten Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben hat. Bis das Land sicher genug ist, bleibt Bozizé an der Macht. Einen demokratischen Machtwechsel hat das Land, das einst von Kaiser Bokassa regiert wurde, sowieso noch nie erlebt.
Wer mit Regierungsvertretern spricht, hat zudem das Gefühl, dass die Regierung das Land jenseits der Hauptstadt Bangui längst aufgegeben hat. "Das Hinterland wird beherrscht von Rebellengruppen und Straßenräubern" , sagt Peter Weinstabel, der in Bangui Österreich vertritt. Deshalb sei die Zentralafrikanische Republik, in der es neben Gold und Diamanten hunderte andere wertvolle Mineralien gibt, eines der ärmsten Länder der Welt. "Die Instabilität hält jeden Investor ab." Verfall und Stagnation sind überall zu beobachten. Vor zehn Jahren hatte die Republik noch gut 500 Unternehmen, sagt Weinstabel, heute seien es noch fünfzig. "Und von denen funktionieren vielleicht zehn." Eine kleine Elite lebe von den Ressourcen, die vor zwanzig, dreißig Jahren erwirtschaftet worden seien. Erneuert werde nichts.
Wo der Staat das Land als ungeschützte Hülle zurücklässt, machen sich Invasoren wie die Lumpensoldaten der ugandischen "Widerstandsarmee des Herrn" (LRA) breit. Augenzeugen berichten von niedergebrannten Dörfern, vergewaltigten Kindern und Opfern, denen die Lippen oder Ohren abgeschnitten worden sind.
Flüchtlinge ohne Versorgung
Selbst die Flucht ist schwierig, weil es im ganzen Land nur 700 Kilometer asphaltierte Straßen gibt. Manchmal müssen die Flüchtigen wochenlang im Wald aushalten, so die Leiterin der EU-Hilfsorganisation Echo, Muriel Cornelis. Die Gesundheitsversorgung, der Zugang zu Trinkwasser, Nahrung oder zu Bildung seien so katastrophal wie in Bürgerkriegsländern. In der Zentralafrikanischen Republik, so scheint es, sind derzeit sogar Helfer hilflos. (DER STANDARD Printausgabe, 12.5.2010)