Wer mit offenen Augen durch einen Zoo geht, einen Wassertropfen unter dem Mikroskop betrachtet oder sich auch nur für ein Weilchen in eine Wiese legt, wird bestätigen können, dass die Welt von einer ungeheuren Fülle von - teils abenteuerlichen - Formen besiedelt ist. Doch vom Blutegel bis zum Elefanten liegen diesem Reichtum nur rund 30 Baupläne zugrunde - quasi der "Baukasten der Natur". Wie dieser entstanden ist und was er alles kann, erforschen Biologen der Universität Innsbruck derzeit in einem FWF-Projekt.
Der Großteil der Tierwelt ist bilateral organisiert, d. h. es gibt zwei Körperachsen - vom Kopf- zum Hinterende sowie von der Rücken- zur Bauchseite - entlang derer alles, was dazwischen liegt, weitgehend symmetrisch angeordnet ist. Nur die Mitglieder von wenigen Tierstämmen - darunter Seeigel, Seesterne oder Quallen - weisen eine einfachere, gewöhnlich radiärsymmetrische Organisation auf, d. h. sie haben nur eine Körperachse, die oral-aborale, also zwischen Mund- und Darmöffnung. Die Untersuchung von Genen, die für die Entwicklung von Körperachsen verantwortlich sind, zeigte, dass die beiden Achsen der Bilateria eindeutig von der einen Achse der Radiata abstammen.
Der Übergang zwischen den beiden Organisationsprinzipien ist einer der wichtigsten Schritte in der Evolution vielzelliger Tiere, ging er doch mit allerhand Neuerungen einher, die auch in unserer eigenen Entwicklung eine tragende Rolle spielten. Nicht zuletzt ermöglichte erst die Ausprägung eines Vorderendes die Entwicklung eines Kopfes und in der Folge eine Zentralisierung des Nervensystems in Form eines Gehirns. Mit der Zweiseitigkeit entstand auch das dritte Keimblatt oder Mesoderm, aus dem während der Entwicklung des Embryos unter anderem Muskeln und Knochen hervorgehen.
Bert Hobmayer und seine Mitarbeiter von der Abteilung für Ultrastruktur und Evolutionsbiologie der Universität Innsbruck befassen sich dabei vor allem mit Genen, deren Produkte dafür verantwortlich sind, dass der "Bauplan" während der embryonalen Entwicklung zuverlässig eingehalten wird, also z. B. am Vorderende auch wirklich ein Kopf und am Hinterende ein Darmausgang entsteht. Ihr Forschungsobjekt ist dabei der mikroskopisch kleine Süßwasserpolyp Hydra. Er zählt zu den einfachsten und evolutiv ältesten vielzelligen Tieren, und sein Genom wurde erst kürzlich von einem internationalen Wissenschafterteam, zu dem auch Hobmayers Gruppe gehörte, vollständig entschlüsselt.
Der Vergleich zwischen der radiärsymmetrischen Hydra, deren direkte Vorfahren es seit über 600 Millionen Jahren gibt, und bilateral symmetrischen Tieren ergab teilweise überraschende Parallelen: So fanden Hobmayer und seine Mitarbeiter in Hydra etwa ein Gen (myc), das es auch bei vielen höheren Tieren gibt. Es kodiert für ein Protein, das eine wesentliche Kontrollfunktion bei allen Vorgängen innehat, die rasches Zellwachstum mit sich bringen, wie etwa Regeneration oder Wundheilung. Beim Menschen sind Funktionsstörungen des myc-Gens für eine Vielzahl von Krebsarten verantwortlich.
Hydra ist extrem regenerationsfähig: Sogar einzelne Zellen davon können wieder ein vollständiges Tier erzeugen. Zwei molekulare Signalwege, die wesentlich an dieser Fähigkeit zum Wiederaufbau beteiligt sind (Wnt und TGF-beta), finden sich ebenfalls bei bilateralen Tieren. Auch bei ihnen sind sie dafür verantwortlich, dass die richtigen Zellen am richtigen Ort landen und dort das Richtige tun. Wesentliche molekulare Schalter von uns sind also mehr als 600 Millionen Jahre alt. (Susanne Strnadl, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. Mai 2010)