Susanne Scholl, langjährige ORF-Korrespondentin, hat es mit ihren "Gewissensfragen zum Abschieben" auf den Punkt gebracht: Ob denn die Verantwortlichen des Staates nicht wüssten, dass die meisten jener, die hierzulande Zuflucht suchten, an Leib und Leben bedroht sind. Ich hatte den ersten Satz noch gar nicht zu Ende gelesen, gab ich für mich selbst schon die Antwort: Doch, die wissen es, und wie sie das wissen!

Aber kurz darauf war ich mir schon nicht mehr so sicher. Zum Beispiel das Schicksal von Susanne Scholls Eltern, die nur deswegen den Holocaust überlebt haben, weil sie damals in England Aufnahme fanden und nicht abgeschoben wurden: Ist es wirklich so unvorstellbar, dass die verantwortlichen Politiker heute nicht wissen, was Flucht und Verfolgung im Dritten Reichen geheißen hat? Vielleicht haben ja manche im Schulunterricht gar nichts davon gehört?

Ich frage mich überhaupt, ob Fachminister wissen, was in ihrem Bereich eigentlich vorfällt. Weiß zum Beispiel die Verkehrsministerin, wie es in Pendlerzügen der ÖBB zugeht? Weiß die Frau Kunstminister, wie die Lage der Kunstschaffenden tatsächlich ist - nicht, wie es hochdotierten Opernsängern, sondern denen "unten" wirklich geht? Weiß die Frau Innenminister, wie sich ein Asylant bei uns fühlt? War Frau Fekter je in einer Abschiebezelle? Hat sie jemals eine Nacht in einem Erstaufnahmezentrum zugebracht? Hat sie eine Ahnung, wie es ist, ständig fürchten zu müssen, mit Polizeigewalt außer Landes gebracht zu werden?

Was weiß der Kanzler, der Vizekanzler? Was weiß der Landeshauptmann Niessl? Am Tag der "Volksbefragung" im Burgenland war ich in Bocksdorf, Bezirk Güssing. Beim Spaziergang ist mir der Herr S. über den Weg gelaufen, ich stelle mir vor: der burgenländische Durchschnittspensionist mit Sinn für Ordentlichkeit, wenn er von der Politik dazu aufgerufen wird. Ungefragt und stolz hat er mir erzählt, dass er schon um acht Uhr früh auf dem Gemeindeamt war, "gegen die Verbrecher unterschreiben", sagte er, das wäre ja seine Pflicht.

Ich frage ihn, was er denn von Asylanten weiß, und Herr S., auch noch gesprächig, erzählt mir von den "Zigeunern" damals, von den ungarischen Juden beim Südostwallbau, die "mit dem MG einfach umgemäht" wurden, das habe er als Jugendlicher selbst erlebt.
Lehrmeister Niessl

Immerhin, Menschen wie der Herr S. "wissen" etwas. Und sei es nur, dass "Zigeuner" stehlen und einem das Haus anzünden. Deshalb hat er bei der Volksbefragung gegen ein Asylzentrum unterschrieben. Er weiß ja, was er weiß. Ich frage mich, weiß auch der Landeshauptmann Niessl, als ihm das mit der Volksbefragung eingefallen ist, was seine Landsleute "wissen"? Was wissen Politiker, wenn sie ernsthaft ihre Bürger fürchten lassen, es würden "Verbrecher" ins Land kommen?

Es heißt zwar immer: Wissen ist Macht, aber irgendwie geht es offenbar auch ganz ohne. Es geht auch ohne Geschichte, niemand sagt einem mehr, dass man sie lernen soll. Sind wir also schon auf dem Weg in eine ahnungslose Gesellschaft? Julian Schutting erzählt mir, was er unlängst im Rahmen eines Schulromanprojektes in Langenlois erlebt hat. Da wurde er nämlich von einer 17-jährigen Schülerin gefragt, was denn das eigentlich sei, der Hitlergruß. Als ob das Jugendliche gerade im wehrsporterprobten Langenlois nicht wüssten, sollte man meinen.

Gerade Jugendliche "wissen" diesbezüglich sehr viel, mehr als der Gesellschaft recht sein mag. Ich habe hier im Standard im vergangenen November von Jugendlichen in Amstetten berichtet, die ich das Horst-Wessel-Lied habe singen hören, und ich habe, offenbar ahnungslos, gefragt, woher sie denn überhaupt wüssten, wie das ginge. Mittlerweile bin ich dazu auch von der Sicherheitsdirektion Niederösterreich, Amt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, einvernommen worden. Immerhin, die Staatsanwaltschaft, obwohl ohne jede Aussicht, hat aufgrund des Standard-Beitrages zu ermitteln begonnen. Immerhin, ich wurde als Zeuge und nicht als Nestbeschmutzer einvernommen, was ja auch hätte sein können. Ich bin es gewohnt, dass ich in Amstetten, wo ich lebe, von der Politik als solcher angesehen werde, zuletzt wurde ich mit dem Vorwurf konfrontiert, ich würde ja auch nichts dagegen tun, nur zuschauen und schreiben.
Wählen mit dem Hakenkreuz

Vor einigen Wochen wollte ich mehr tun. Bei der Gemeinderatswahl am 14. März wurde in einem Amstettner Sprengel ein Stimmzettel für die FPÖ ausgezählt, der zusätzlich mit einem Hakenkreuz und dem Schriftzug "Heil Hitler!" versehen war. Da im Wahlakt nichts dazu vermerkt wurde, für mich hier ein klarer Fall von Wiederbetätigung vorlag, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft gemacht. Innerhalb einer Woche wurde ich von der Einstellung des Verfahrens benachrichtigt.

Den Hinweis auf einen bestimmten Paragrafen musste ich mir erst erklären lassen: Eine Strafverfolgung hätte eine Verletzung des Wahlgeheimnisses zur Folge gehabt, und dieses stehe über der Straftat. Also ist nationalsozialistische Wiederbetätigung in Österreich erlaubt, wenn sie unter dem Schutzmantel des Wahlgeheimnisses geschieht.

So nebenbei darf einen etwas anderes empören: Wenn auf einem Stimmzettel eine Partei, in diesem Fall die FPÖ, angekreuzt und diese Wahlentscheidung mit Hakenkreuz und Hitlergruß versehen wird, dann handelt es sich um eine reguläre, auf demokratische Weise zustande gekommene Stimme, die laut Gesetz gezählt werden muss.

Auch in Hollabrunn wurde auf einem Stimmzettel die FPÖ mit einem Hakenkreuz gewählt. Ein Einspruch bei der Landeswahlbehörde läuft zwar noch, hat aber wenig Aussicht auf Erfolg. Ist das wirklich Demokratie? Und weiß das der Kanzler, der Vizekanzler, die Justizministerin ...? (Gerhard Zeillinger, DER STANDARD, Printausgabe, 12.5.2010)