Wolf-Dieter Ludwig (58) ist Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie am Helios-Klinikum Berlin-Buch. Sein fachlicher Schwerpunkt ist Hämatologie. Seit 1999 ist er Vorstandsmitglied der deutschen Arzneimittelkomission der deutschen Ärzteschaft deren Vorsitzender er seit 2007 ist.

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Michael Gnant (45) Professor ist  für Chirurgie und Krebsforscher an der Medizinischen Universität Wien. Seit 2005 ist der Präsident der Krebsstudiengruppe ABCSG (Austrian Breast and Colorectal Cancer Study Group), in deren Rahmen Dutzende Studien zu neuen Krebsmedikamenten durchgeführt werden.

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Krebs mit Metastasen: Wie gut kennen Ärzte neue Arzneimittel, die sie an Patienten ausprobieren? Die Onkologen W.-D. Ludwig und M. Gnant im Gespräch.

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Standard: Was sollten Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen von ihren Ärzten erfahren?

Gnant: Krebs ist eine vielschichtige Erkrankung. Wir wissen, dass die Heilungschancen umso höher sind, je früher die Erkrankung entdeckt wird. Es gibt aber leider auch Stadien der Unheilbarkeit. In einem Patientengespräch geht es also darum, diese Fakten behutsam, empathisch und der Wahrheit entsprechend zu vermitteln.

Standard: Viele werden sie nicht wahrhaben wollen.

Gnant: Wenn Heilung in so einer Situation als Ziel der Behandlung nicht realistisch ist, gibt es andere Ziele, die mindestens genauso erstrebenswert sind, etwa Lebensverlängerung und das Bewahren, Erhalten oder Wiederherstellen von Lebensqualität. Meine Erfahrung ist, dass die Patienten meist Therapie wollen, auch wenn die Erfolgsaussichten eher gering sind. Minimale Hoffnung ist das Prinzip.

Ludwig: Das Gespräch zwischen Patient und Arzt ist auf einer onkologischen Station entscheidend. Leider gibt es hier aber weiterhin Defizite, was die Aufrichtigkeit betrifft. Wir informieren Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen oft nicht ehrlich genug über die häufig ja leider sehr ungünstigen Prognosen trotz chirurgischer, strahlentherapeutischer oder medikamentöser Maßnahmen. Krebs und dessen Behandlung haben hohe mediale Aufmerksamkeit. Ärzte erliegen oft dem öffentlichen Druck.

Standard: Was meinen Sie damit?

Ludwig: Patienten informieren sich heute viel umfassender als früher. Es gibt das Internet, Selbsthilfegruppen, die Medien. Da wird dann von zielgerichteten, individualisierten oder maßgeschneiderten Therapien berichtet, die die Patienten dann auch einfordern. Jeder, der etwas von der Biologie der Krebserkrankungen versteht, weiß, dass man nur sehr selten zielgerichtet Tumorzellen angreifen kann. Viele Aussagen zu zielgerichteter Therapie sind Marketing der Pharmaindustrie. Es gibt ganz wenige Krebserkrankungen, zumeist hämatologische, die im fortgeschrittenen Stadium durch Medikamente heilbar sind.

Standard: Was ist von der Teilnahme an klinischen Studien zu neuen Medikamenten zu halten?

Ludwig: In einer Studie betritt jeder, der daran teilnimmt, zwangsläufig experimentelles Terrain. Fast alle Studien zur Zulassung von Medikamenten werden von der Pharmaindustrie durchgeführt und verfolgen primär das Ziel, neue Medikamente rasch auf den Markt zu bringen. Lebensqualität ist in solchen Studien nur selten ein Kriterium.

Gnant: Ich halte das Bild von therapiewütigen Ärzten, die in Komplizenschaft mit der Pharmaindustrie Therapien an Patienten ausprobieren, für problematisch. Es entspricht nicht der Realität.

Ludwig: Von Komplizenschaft habe ich nicht gesprochen und warne auch vor einer solchen Polarisierung. Ich denke aber, dass viele Ärzte heute gar nicht mehr in der Lage sind, sich ein unabhängiges Bild über neue Arzneimittel zu verschaffen, weil sehr häufig klinische Forschung und Information zu neuen Arzneimitteln von der Pharmaindustrie beeinflusst, ja dominiert werden.

Gnant: Um unabhängige Forschung machen zu können, bräuchte man öffentliche Ressourcen, die es aber viel zu wenig gibt. Der Fortschritt bei neuen Krebstherapien ist zäh und langsam, der Aufwand unermesslich, und die Erfolgsschritte sind klein. Und: Der Therapiewunsch der Patienten ist bei Krebs ungleich höher als bei anderen Erkrankungen.

Standard: Was sind die Ziele neuer Therapien?

Gnant: Es ist komplex, den Nutzen neuer Therapien zu quantifizieren. Im Frühstadium geht es darum, die Überlebensraten zu verbessern. In späten Stadien wurde dann der Parameter des progressionsfreien Überlebens festgelegt, das hat sich etabliert. Sehr oft geht es heute eigentlich um den Kosten-Nutzen-Aspekt und die Frage, wie viel Geld die Medikamente kosten dürfen, die Leben verlängern - vor allem wenn sie nur einige Wochen oder Monate mehr Leben bedeuten, wird diskutiert.

Standard: Darüber, was Leben wert sein darf?

Gnant: Als Wissenschafter verstecken wir uns hinter statistischer Signifikanz. In Wahrheit geht es darum, dass jemand mit einem neuen Medikament vielleicht zwei Monate länger lebt, 60-mal seiner Familie "Guten Morgen" sagen kann. Die Frage ist, was einer Gesellschaft diese Lebensverlängerung wert ist. Denn natürlich kosten solche Maßnahmen Geld. Das ist aber letztlich eine ethische und keine medizinische Frage.

Ludwig: Wir müssen bei neuen Arzneimitteln unbedingt fordern, dass es bei der Wirksamkeit nicht nur um zwei Monate progressionsfreies Überleben geht, sondern dass auch die Lebensqualität und die Symptomkontrolle viel ernster genommen werden. Das ist eine Forderung an die Pharmaindustrie, deren Studien sich vor allem auf den Nachweis der Wirksamkeit konzentrieren. Die unerwünschten Nebenwirkungen von Arzneimitteln müssen ein wichtiges Kriterium sein. Denn was nützt die gewonnene Zeit, wenn Patienten sie im Spital verbringen, weil ihnen die unerwünschten Wirkungen von Medikamenten so stark zu schaffen machen. Verbesserung von Lebensqualität muss bei fortgeschrittenen Tumoren deshalb ein zentrales Thema sein.

Standard: Wie wird ein innovatives Medikament zum Standard?

Gnant: Die meisten Therapien werden quasi von hinten nach vorne entwickelt. Zuerst muss ein Medikament eine ausreichende Sicherheit und Wirkung zeigen, um von Second oder Third Line zu First Line zu werden. Im Rahmen der international erfolgreichen österreichischen Arbeits- und Studiengruppe ABCSG für Brust- und Darmkrebs hat es das Medikament Trastuzumab bei neoadjuvantem Brustkrebs mit Her2-Überexpression geschafft, die Remissionsrate um spektakuläre 50 Prozent zu erhöhen. Derzeit sind 200 neue Substanzen für Krebserkrankungen in klinischer Prüfung, allerdings ist in den meisten Fällen die Verbindung von molekularem Target und Ergebnis viel weniger gut.

Ludwig: Der Antikörper gegen Her2 war sicher ein wichtiger Schritt, auch weil parallel dazu entsprechende Nachweismethoden der Überexpression von Her2 entwickelt wurden. Trotzdem würde ich mir auch hier Nachbeobachtungen über einen längeren Zeitraum wünschen - etwa in Form von Registern. Nur so können Wirksamkeit und Sicherheit neuer Medikamente langfristig beurteilt werden.

Gnant: Da sind wir aber mit datenschutzrechtlichen Fragen konfrontiert. Auf der E-Card darf ja nicht einmal die Blutgruppe gespeichert werden, geschweige denn eine Krankengeschichte.

Standard: Kann es klug sein, sich gegen eine Chemo zu entscheiden?

Ludwig: Es gibt Studien, die belegen, dass Patienten mit weit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen für einen geringen Nutzen sehr viel Toxizität in Kauf nehmen. Diese Patienten sind oft nicht ausreichend über Alternativen informiert. Um Therapieabbruch geht es dabei nicht, vielmehr um eine Änderung der Therapiestrategie. Palliative Maßnahmen erhalten Lebensqualität, machen es häufig möglich, dass Patienten zu Hause und nicht im Spital sind. Bei experimentellen Therapien ist das selten der Fall. Wenn sich ein Patient gegen eine Chemo entscheidet, bleibt er weiter in medizinischer Betreuung. Voraussetzung für so eine Entscheidung ist aber Ehrlichkeit im Gespräch mit dem Arzt, der zugibt, dass auch seine Möglichkeiten Grenzen haben. Davor scheuen viele zurück, suggerieren lieber, es gäbe immer weitere Optionen mit neuen Arzneimitteln. Meine Erfahrung ist, dass Patienten auf Ehrlichkeit eher dankbar als verzweifelt reagieren.

Gnant: Jede Therapieentscheidung ist emotional, und Nutzen und Wirkung müssen immer gut gegeneinander abgewogen werden. Mit Empathie erarbeitet man sich als Arzt einen guten Ruf. Das sage ich als Arzt, der auch viel wissenschaftlich arbeitet. Beides lässt sich verbinden. Machtlos im Sinne von Nicht-helfen-Können sind wir nie. Wer in der Onkologie arbeitet, muss immer wieder mit Misserfolgen kämpfen.

Standard: Gibt es Wunder?

Ludwig: Wunder sind leider sehr selten, es gibt manchmal erfreuliche, unerwartet positive Krankheitsverläufe. Deshalb kann Abwarten eine vernünftige Option sein. Bei vermeintlichen Wundern war oft die Diagnose falsch.

Gnant: Ich arbeite sehr lange in der Onkologie, aber "Wunder" habe ich keine erlebt. Es gibt manchmal wunderbare Erfolge, etwa eine Frau, die ich vor 17 Jahren behandelte. Damals hatte sie eine statistische Lebenserwartung von zwei Jahren, letztlich hat sie 15 Jahre überlebt. Das gibt Hoffnung, dass wir manchmal Ungewöhnliches erreichen können. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 17.5.2010)