Das Ich ist nicht nur unrettbar, wie der Wiener Physiker, Philosoph und Wissenschafttheoretiker Ernst Mach einst sagte, es ist auch leicht zu verwechseln. Als Mach einmal in den Bus stieg, amüsierte er sich über einen Mann, der ihm entgegenkam und recht heruntergekommen aussah - bis Mach erkennen musste, dass es sich um sein eigenes Spiegelbild handelte.

In Ernst Kaisers Roman Die Geschichte eines Mordes ist es umgekehrt: Ein Mann wacht eines Morgens auf und hält sich für einen Fremden. Voller Schuldgefühle gesteht "Herr Kalm" einem ungläubigen Kriminalisten einen Mord, obwohl er die Tat gar nicht begangen haben kann und der wirkliche Mörder längst gefasst ist. Woher aber kennt er dann all die Details, die nur dem Täter bekannt sein können?

Schizophrener Zerfall

Für den Schriftsteller Hermann Broch war der Roman des österreichischen Juden Ernst Kaiser "die Schilderung eines schizophrenen Zerfalls". Als Brochs Gutachten, im Jahr 1947 für die Bollingen Foundation verfasst, 1975 in seinen Schriften zur Literatur veröffentlicht wurde, war Kaiser bereits drei Jahre tot.

Der gebürtige Wiener, der 1938 nach London emigriert war, sorgte zusammen mit seiner Frau, der neuseeländischen Germanistin Eithne Wilkins, als Übersetzer maßgeblich dafür, dass das Werk seines Landsmanns Robert Musil nicht in Vergessenheit geriet. An seinem Psycho-Krimi schrieb er seit den Vierzigerjahren.

Zusammen mit einem zweiten Teil ist Die Geschichte eines Mordes ein mehr als 1000 Seiten umfassendes Mammutwerk. Erschienen ist der Roman nie, trotz zwischenzeitlicher Interessenbekundungen von Suhrkamp und Rowohlt, bis vor kurzem galt er gar als verschollen, wie der gesamte Nachlass Kaisers.

Dass nun eine Kopie desRomans im Marbacher Literaturarchiv gefunden wurde, ist ein unerwarteter Glücksfall. Ingrid Bachér, die mit den Kaisers befreundet und als Nachlassverwalterin bestimmt war, hat den ersten Teil für die Veröffentlichung bearbeitet und gekürzt.

Edgar Allen Poe, Arthur Schnitzler und Leo Perutz dürften wesentliche Einflüsse Kaisers gewesen sein, heutige Leser lässt der Roman an die filmischen Psycho-Labyrinthe des Regisseurs David Lynch denken. Kaisers Protagonist, Herr Kalm, ist, um es mit Sigmund Freud zu sagen, nicht mehr Herr im eigenen Haus - Letzteres im Übrigen eine Villa mit umfangreicher Dienerschaft; Kalm gilt als reichster Mann der Stadt.

Zunehmend paranoid

Ungewöhnlich an diesem faszinierenden, bis zu letzten Seite rätselhaft bleibenden Krimi ist nicht nur, dass sich hier einer mit dem Mörder verwechselt, ungewöhnlich ist auch, dass er zu Kriegszeiten spielt.

Die Zeitungen, von denen die Rede ist, sind voller Durchhalteparolen; als ein zunehmend paranoider Kalm das Polizeipräsidium verlässt, wird die Stadt, die namenlos bleibt, aber wohl Wien sein dürfte, gerade bombardiert.

Kaiser, der selbst in der englischen Armee "gegen Deutschland für Deutschland" kämpfte, erzählt die Geschichte eines "Kriegsdienstverweigerers" (wie es doppelt unterstrichen in Kalms Polizeiakte steht), dem aufgrund seines Reichtums die Realität abhandengekommen ist und der nun versucht, gewaltsam zur Wirklichkeit durchzustoßen. (Oliver Pfohlmann, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 15./16.05.2010)