Tufyal Choudhury ist einer der führenden britischen Antidiskriminierungsexperten. Er ist unter anderem Mitarbeiter der Durham University und des Open Society Institute des US-amerikanischen Investmentbankers George Soros. Nach den Terroranschlägen im Juli 2005 beriet er die Regierung in London.

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STANDARD: In westlichen Staaten - auch in Österreich - wird über ein Burkaverbot diskutiert. Die Burka sei frauenverachtend, sagen die einen, ein Verbot wäre islamfeindlich die anderen. Was meinen Sie?

Choudhury: Ich denke, dass es hier vor allem um Religionsfreiheit geht. Man sollte die Burka zulassen, wenn sie den religiösen Glauben einer Frau ausdrückt. Man kann sie natürlich ablehnen, weil man gegen religiöse Symbole in der Öffentlichkeit eintritt, oder aus Gründen der Gendergerechtigkeit. Doch dann sollte man danach trachten, den Burkaträgerinnen den Rücken zu stärken, ihnen etwa Zugang zu Ausbildung zu geben: Maßnahmen, die Zeit brauchen. Ein Burkaverbot ist rasch beschlossen, aber es sabotiert all diese Integrationsbemühungen.

STANDARD: Dem wird entgegengehalten, dass sich burkatragende Frauen überhaupt nicht integrieren wollen, sonst würden sie sich anders kleiden: ein Totschlagargument?

Choudhury: Schon, denn es lässt außer Acht, dass Integration ein konfliktreicher Prozess ist, auf den sich einzulassen kein Zeichen der Schwäche ist. Die europä-ischen Gesellschaften sind dazu vielfach nicht ausreichend bereit, weil sich Europa immer noch nicht als Einwanderungskontinent versteht. In mancher Hinsicht ist die Situation hier wie in den 1920er-Jahren in den USA. Dort stellte sich die angelsächsisch dominierte Gesellschaft ernsthaft die Frage, ob man all die irischen Katholiken integrieren würde können. Heute fragt sich das niemand mehr.

STANDARD: In den 1920er-Jahren wurde in den USA auch heftig über Zwangsehen in italienischen und jüdischen Familien diskutiert - so wie heute unter Muslimen in Europa: Sind solche Diskussionen Phasen auf dem Weg zur Einwanderungsgesellschaft?

Choudhury: Ja, weil es zum Prozess der Integration gehört, dass es Konflikte gibt, dass neu ausgehandelt wird, was Norm ist und was nicht. Das ist ein Prozess, der Einwanderer ebenso wie Hiesige herausfordert - sodass sich mittelfristig alle ändern müssen. Derzeit stehen bei Muslimen und Nichtmuslimen in Europa vielfach die Unterschiede im Vordergrund. Unsere Umfrage in elf europäischen Städten ("Muslims in Europe. A Report on 11 EU-Cities", Anm.) hat ergeben, dass beide Gruppen zwar das Ausmaß rassistischer Diskriminierung in der jeweiligen Gesellschaft gleich hoch beziffern. Das Ausmaß religiöser Diskriminierung hingegen setzen Muslime überall weit höher als Nichtmuslime an.

STANDARD: Warum?

Choudhury: Weil Forderungen an das Verhalten anderer, die von Nichtmuslimen als richtig und fair betrachtet werden - etwa dass niemand dazu bewegt werden soll, seinen Kopf zu bedecken - von Muslimen als unfair und diskriminierend empfunden werden. Da gibt es noch keine neue, gemeinsame Übereinkunft.

STANDARD: Gefährdet das den Zusammenhalt der Gesellschaft?

Choudhury: Vor allem drückt es aus, dass sich Muslime aus religiösen - und vielfach auch aus ethnischen - Gründen als diskriminiert betrachten. Andererseits aber ist auch die Ähnlichkeit der Umfrageergebnisse in beiden Gruppen bemerkenswert. So machen sich etwa beide Gruppen die gleichen Sorgen, wenn es um ihre Wohnumgebung oder um die Schulerziehung der Kinder geht. Spannend ist auch, dass sich muslimische Kopftuchträgerinnen um nichts weniger als - sagen wir - Deutsche oder Däninnen sehen als Nichtmusliminnen.

STANDARD: Wie steht es mit den Kindern der Einwanderer - von ihnen heißt es, sie hätten besondere Integrationsprobleme?

Choudhury: Es kommt darauf an, in welchen Bereichen die Integration gemessen wird. Muslimische Einwandererkinder der zweiten Generation in England sind im Durchschnitt besser ausgebildet als ihre Eltern. Aber die jungen Muslime drücken ihre Frustrationen lauter als ihre Eltern aus - weil sie sich in ihren Leben als Europäer mehr erwarten. Ich würde das auch als Zeichen zunehmender Integration sehen.

STANDARD: Politiker und Sicherheitsexperten sehen darin hingegen vielfach Radikalisierungsgefahr - eine falsche Optik?

Choudhury: Das Radikalisierungsrisiko ist weit geringer, als in diesem Sicherheitsdiskurs dargestellt. In Großbritannien zum Beispiel leben rund zwei Millionen Muslime, fundamentalistische Gefahr geht laut Polizei nur von ein paar hundert aus.

STANDARD: Großbritannien hat aufgrund seiner Kolonialgeschichte Jahrzehnte länger Erfahrung mit Einwanderung als etwa Österreich. Was kann man daraus lernen?

Choudhury: Etwa, dass es nicht reicht, Einwanderern die Möglichkeit zu geben, Gleichstellung vor Gericht oder vor Gleichstellungsbehörden einzuklagen. Sondern, dass die Gleichstellung von den Verantwortungsträgern ausgehen und in den Strukturen der Gesellschaft festgelegt sein muss - als Bringschuld der Gesellschaft, nicht als Holschuld der Einwanderer oder anderer religiöser, ethnischer, sexueller Minderheiten. Das ist eine Herangehensweise, die noch nicht ins Rechtsgut der EU eingegangen ist. Aber es ist eine moderne, wirksame Gleichstellungsstrategie. (Irene Brickner, DER STANDARD - Printausgabe, 17. Mai 2010)