Manche Labels sind wie gute Freunde. Wie bei jeder echten Freundschaft gibt es hin und wieder Brösel, aber nichts, was fundamental an der Zuneigung - auch wenn sie in diesem Fall nur eine einseitige ist - rühren würde. Warp Records ist so ein Haberer. Seit über zwanzig Jahren veröffentlicht das britische Label begnadete, großartige, manchmal etwas überschätzte, oft schräge Bands und Musiker, ganz selten sind wirkliche Nullen darunter. Von den rein elektronischen Anfängen hat sich der Verlag längst zu einem stilistisch breit aufgestellten Kraftwerk entwickelt.
Hinterlassenschaften des HipHop
Nach dem phänomenalen 2010er-Debüt A Sufi & A Killer von Gonjasufi, belegen nun drei weitere aktuelle Veröffentlichungen des Labels dessen Vielfalt: Cosmogramma von Flying Lotus, Compass von Jamie Lidell sowie Extra Wow von Nice Nice, einem Neuzugang auf Warp. Flying Lotus ist der Alias des kalifornischen Musikers und Produzenten Steven Ellison, der mit seinem vor zwei Jahren erschienenen Album Los Angeles eine Schnittstelle definiert hat, die aus Hinterlassenschaften von HipHop, Elektronik und Soul besteht.
Daraus kreierte der heute 26-jährige Großneffe der verstorbenen Jazzpianistin und früheren John-Coltrane-Gattin Alice Coltrane ein Amalgam, in dem ewige Gefühle mit neuen Sounds aufgeladen und neu definiert wurden - ein Meisterwerk! Undankbarerweise erwartet man als solcherweise verwöhnter Hörer ein mindestens ebenso genialisches Folgewerk. Allein, mit Cosmogramma legt Flying Lotus ein eher blasses Album nach, das von einem elektrifizierten Jazz-Idiom geprägt ist, das nur leider so elegant daherkommt wie ein Tänzer mit offenen Knochenbrüchen und Krücken.
Die visionäre Kraft des Vorgängers verplempert Flying Lotus zugunsten eines Drum-and-Bass-Schmähs, über den bereits 1998 nicht mehr gelacht wurde. Zwar gibt es einzelne Ausreißer, die einen kurzfristig versöhnen. Do The Astral Plane etwa, einer dieser beseelten Tracks, für den Ellison zuletzt so viel Zuspruch erhielt und der in jeder Deep-House-Disco für Entzücken sorgen würde. Thom Yorke, Sänger der britischen Radiohead leiht dem Stück ... And The World Laughs With You - seine Stimme, was nicht weiter auffällt und also das Album leider auch nicht rettet.
Dafür hat sich Jamie Lidell mit Compass wieder auf Kurs gebracht. Nachdem er zuletzt mit Jim ein eher einfallsloses und geschniegeltes Album veröffentlicht hatte, besitzt Compass nun wieder jene Kratzbürstigkeit, die dem elektrifizierten Soul des Briten so gut ansteht. Erstmals richtig auffällig geworden war Lidell mit dem Projekt Super_Collider, bei dem Techno-Produzent Cristian Vogel die Musik besorgte, während Lidell mit seiner aus dem Blues und dem Soul kommenden Stimme für ekstatische Sahnehäubchen sorgte. Als Solokünstler überführte er diesen Ansatz in ein Bandprojekt und wurde damit ungleich erfolgreicher.
Mit seinem 2005 erschienenen Album Multiply brachte er diese Kunst zur Meisterschaft, gemeinsame Touren mit Größen wie Beck resultierten daraus ebenso wie diverse Lizenzierungen seiner Stücke für US-amerikanische TV-Serien und Werbespots. Mittlerweile lebt Lidell in New York. Dass Jim etwas sehr glatt und charakterlos ausgefallen war, gibt Lidell heute selber zu. Für Compass hat er sich deshalb selbst mit den Produktionsagenden betraut und nicht wie in Vergangenheit diese seinem Produzenten Mocky überantwortet. Daraus entstand so etwas ein neuer Grundton. Eine fast dumpf wirkende Bass-Basis, auf der die Mehrzahl der Tracks aufbaut. Darüber firlefanzt Lidell liebevoll mit Soundschnipseln und jubiliert überdrüber mit seiner Stimme.
Stevie Wonder via Humbold
Das gipfelt in Songs wie Enough's Enough, in dem der 36-Jährige wieder so bestechend nach Stevie Wonder - zirka 1973 - klingt, wie man es schätzt. Ebenso wie das etwas dämlich benannte I Wanna Be Your Telephone - noch so eine Wuchtel aus Humbolds Stevie-Wonder-Soul-und-Funk-Lehrgang. Neben diesen eher geradlinigen Stücken erfreut er aber auch mit leicht abgedrehten Sounds, in denen misshandelte Bläser, verkorkstes Human-Beat-Box-Gebrabbel oder deftiges Bassgefurze Einsatz finden. Bloß nicht noch ein glattgebügeltes Album produzieren! Unterstützung bei der Rückkehr in die sexy Schräglage kam dabei von Beck, von dessen Spontaneität sich Lidell dankbar anstecken ließ. Aus gemeinsamen Jams sind einige der hier ausgestellten Songs entstanden, die Lidell auf Höhe seiner Kunst zeigen. Heftig, funky und lässig dreckig.
Heftig eröffnet auch der Warp-Neuling Nice Nice auf Extra Wow. Das 1999 von Jason Buehler und Mark Shirazi gegründete Bandunternehmen würde man aufgrund von Extra Wow nicht in Portland, Oregon, verorten. Mit dem üblichen Sound der Alternative-Rock-Hipster-Enklave im Nordwesten der USA hat es nämlich gar nichts am Hut. Set And Setting, der Opener, der übergangslos in Nummer zwei, One Hit, mündet, ist ein giftig-galliges Mantra aus Ein-Akkord-Gedresche und Lärmverzierung, die aus der Psychedelic ebenso kommt wie aus der Steckdose von Techno-Rabauke Alex Empire.
Simple Motive werden via Repetition und Überlagerung zu mächtigen Klangräumen, die über elektronischen Beats und spartanischen Melodien so etwas wie eine bescheidene Lieblichkeit erfahren. Im Schatten großer deutscher Vordenker wie Neu! oder Harmonia wird hier intensiv und mit tribalistischer Wucht etwas versucht, dem vor einigen Jahren noch das blutleere Etikett Postrock angeklebt worden wäre.
Doch Nice Nice so abzufertigen würde dem obsessiven Nachdruck ihrer Musik nicht gerecht. Das hier sind schöngeistige Punks mit dem Musiklexikon unter dem Kopfpolster. (Karl Fluch/ DER STANDARD, Printausgabe, 21.5.2010)