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Kopfschmerz raubt Lebenslust: Oft geht Migräne mit Depression einher.

Foto: APA/EPA/GERRY PENNY

Eine Geschichte von Hoffnung und Enttäuschungen.

Als vor zehn Jahren das menschliche Genom entschlüsselt wurde, herrschte auch unter den Neurologen Aufbruchsstimmung. Migräne heißt eines der großen ungelösten Rätsel, das jeden zehnten Menschen in den Industrieländern regelmäßig in die Knie zwingt. Die Hoffnung, auf genetischer Basis die Ursachen zu finden, und statt Symptomunterdrückung endlich die Wurzel des Übels auszumerzen war groß.

Denn nicht einmal darüber, was bei einem Migräneanfall genau im Gehirn passiert, herrscht endgültige Klarheit. Wissenschafter vermuten, dass es sich um einen Erregungssturm der Nervenzellen handelt. Der Beginn einer Migräneattacke ist eine übermäßige Aktivierung bestimmter Nervenzellen im Hirnstamm, ein Art "Migräne-Generator" wird spekuliert. Das setzt Botenstoffe frei, die das trigeminale Schmerzsystem im Gehirn aktiviert. Der akute Kopfschmerz ist dann eine Folge einer entzündlichen Reaktion in Hirnhäuten und Blutgefäßen, denn das Gehirn selbst ist ja schmerzunempfindlich. "Wir vermuten, dass die Kommunikation der Zellen untereinander gestört ist und dass die komplexe Informationsweitergabe im Gehirn entlang fest gelegter Signalpfade ("Signaling pathways") nicht mehr funktioniert", sagt Thomas Wieser, Kopfschmerzspezialist am Krankenhaus Göttlicher Heiland in Wien. Er glaubt sogar, dass viele Menschen von Zeit zu Zeit eine Migräneattacke haben, die als solche aber gar nicht diagnostiziert wird, weil sie etwa zu selten vorkommen. "Die Schwelle, die eine Migräne auslöst, ist bei Menschen unterschiedlich, ebenso wie die Ausprägung", sagt er.

Nicht mehr im Trüben fischen

Die Hoffnung, dass sich Migräne also per Gentest nachweisen lässt, hat sich nicht erfüllt, das war den Forschern relativ schnell klar, vor allem dann nicht, wenn es sich um eine Form der "common migrane", also den herkömmlichen Migräne-Arten, handelt.

Anders bei "Familiärer Hemiplegischer Migräne (FHM), einer sehr seltenen Form der Migräne, unter der 0,01 der Patienten leiden. Sie wird vererbt, und Anfälle gehen mit Lähmung der Extremitäten, Fieber oder epileptischen Anfällen einher. Drei Gene mit den kryptischen Bezeichnungen CACNA1A, ATP1A2 und SCN1A konnten nach mühevoller genetischer Feinarbeit identifiziert werden.

Derzeit überprüfen die Forscher die Rolle dieser drei Gene in Mäusen, deren Erbgut in genau diesen für Migräne relevanten Abschnitten verändert wurde. Das erstaunliche Ergebnis: Diese transgenen Mäuse zeigen im Gegensatz zu genetisch nicht veränderten Mäusen von Zeit zu Zeit ein anderes Verhalten, das menschlichem Verhalten während der Migräne ähnelt. So verstecken sie sich, meiden Licht, laufen im Kreis, "das ist ein Hinweis auf einseitige Lähmungserscheinungen und erhöhte Lichtempfindlichkeit, wie wir sie auch bei Menschen beobachten", berichtet Wieser. Zudem sind diese Migräne-Mäuse auch ängstlicher. Auch übermäßige Angst beobachten Mediziner bei Migränepatienten häufig. "Wir versuchen, aus dieser seltenen Form Schlüsse für den Mechanismus von Migräne im Allgemeinen zu ziehen."

Nach vielen genetischen Sequenzierungen und Vergleichen ist heute klar, dass die drei FHM-Gene bei den häufigen Migräneformen keine Rolle spielen, aus den Beobachtungen ist aber abzuleiten, dass eine Vielzahl genetischer Veränderungen – laut Schätzungen bis zu 20 aus unterschiedlichen Funktionskreisläufen der Regulierung von Nervenzellen – Migräne auslösen. Die Varianten der Fehlkommunikation zwischen den Zellen könnten auch eine Erklärung für die unterschiedlichen Formen von Migräne, die verschiedenen Auslöser und die unterschiedlich erfolgreichen Therapien sein. "Migräne ist eine komplexe Hirnfunktionsstörung, deren Entschlüsselung erst viel Wissen über die Funktion des Gehirns im Allgemeinen bringen wird.

Ein akuter Migräneanfall wird meist mit Triptanen, einem Wirkstoff, der gezielt für schwere Migräneattacken entwickelt wurde, behandelt – sie unterbrechen die Schmerzsignale, die über das trigeminale System weitergeleitet werden. Leichte Migränekopfschmerzen hingegen werden mit nichtsteroidalen Antiphlogistika wie Acetylsalicylsäure oder Paracetamol gelindert. Haben Patienten mehr als drei Attacken im Monat, dann versucht man mit einer Prophylaxe (etwa Beta-Blockern) Anfällen vorzubeugen. Doch ausschließlich Medikamente gelten längst nicht mehr als der Weisheit letzter Schluss. "Wir versuchen mit multidisziplinären Ansätzen zu behandeln, dazu gehören Methoden der Selbstwahrnehmung genauso wie Fragen des Lebensstils", sagt Wieser. (Karin Pollack, DER STANDARD, Printausgabe, 25.05.2010)