"Zwickts mi, i man i dram." Zwei Personengruppen dürften gestern zu diesem Austropop-Song Zuflucht genommen haben, als ÖVP-Wissenschaftsministerin Beatrix Karl im ORF-Morgenjournal erklärte, ihre schulpolitische Zielvorstellung sei das "Gymnasium für alle": einerseits sozialdemokratische Bildungspolitiker, die sich wohl fragen, warum nicht ihnen diese brillante Idee gekommen ist, andererseits der ÖAAB, dessen vor wenigen Tagen präsentiertes "Schulreform"-Programm sich ganz rasch als das herausstellte, was es von Anfang an war - ein Stück ideologisches Altpapier.

Auch als der offensichtlich seinen Ohren nicht trauende Journalist mehrfach nachfragte, blieb die Ministerin bei der Aussage, dass sie das jetzige Schulsystem mit seiner Auslese für Hauptschule oder AHS im Alter von neuneinhalb Jahren weder für fair noch für effizient hält. Beatrix Karl befindet sich mit der eleganten Umrundung des umstrittenen Begriffs Gesamtschule in bester Gesellschaft. In Frankreich benannte man anlässlich der Gesamtschulreform der 1970er-Jahre die Sekundarstufe I mit dem noblen Begriff "collège", in Schweden gab man in den 1980er-Jahren der Oberstufe, in der das Gesamtschulprinzip durch Integration von Gymnasien und Berufsschulen bis zum 18. Lebensjahr ausgeweitet wird, den Namen "Gymnasialschule".

Der Ministerin ist sicher klar, dass ihre kühne Initiative heftige Reaktionen auslösen wird. Nirgendwo in Europa ist die Zweigliedrigkeit der Sekundarstufe I so ausgeprägt wie im Einflussbereich der dualistischen deutschen Bildungstheorie. Auch nach dem deutschen Pisa-Schock wagen es bundesrepublikanische Bildungspolitiker nicht, die Abschaffung der schulischen Apartheid im Alter von zehn Jahren in Angriff zu nehmen. Selbst der renommierte Bielefelder Sozialforscher Klaus Hurrelmann begnügte sich in seinem vor einigen Monaten verfassten offenen Brief an die Bildungsminister der deutschen Bundesländer mit einem resignativen Plädoyer für eine gesamtschulische "Gemeinschaftschule" - "neben dem Gymnasium".

Allerdings: Wenn Ministerin Karl nicht (gemeinsam mit Bildungsministerin Schmied?) rasch ein wohlüberlegtes Konzept für das "Gymnasium für alle" folgen lässt, wird sie zur Buhfrau des Bildungsbürgertums werden, das sich einer der letzten Bastionen der Statuserhaltung und Distinktion von "hoi polloi" beraubt sieht. Das demokratische Recht von Eltern, die Bildungskarriere ihrer Kinder mitzubestimmen, wird insbesondere in den deutschsprachigen Ländern - nicht zuletzt durch eine unreflektierte Übernahme der neoliberalistischen Postulate "diversity and choice" - stillschweigend zu einem "Grundrecht" auf Wahl zwischen verschiedenen Schultypen für Zehn- bis 14-Jährige umdefiniert.

Die Quadratur des bildungspolitischen Kreises durch ein "Gymnasium für alle" besteht nicht bloß darin, dass Kinder aus ambitionierten Mittel- und Oberschichtfamilien auch weiterhin "Gymnasiasten" bleiben. Es geht vielmehr darum, dass das Novum Gymnasium so konzipiert wird, dass es sowohl dem Elternrecht auf Mitbestimmung der Bildung ihrer Kinder als auch den Differenzierungs-Notwendigkeiten von Lehrern und Kindern gerecht wird. Wenn Eltern nicht mehr zwischen Schulen wählen können - was ohnedies eine höchst krude Form der "Individualisierung" ist -, dann muss es ihnen ermöglicht werden, innerschulisch zu wählen. So wird zum Beispiel ein begabtes Mädchen den Leistungskurs in Mathematik, Französisch als zweite Fremdsprache und schließlich Latein wählen, während ein "begabungsferner" Bub den Grundkurs Mathematik, "Survival English" und Arbeitslehre wählt; Sozialkunde, Musik und Gesundheitserziehung machen sie gemeinsam.

Durch schulische Integration wird die Begabungsvielfalt der Kinder nicht geringer, aber um damit pädagogisch angemessen umzugehen, braucht es, wie der skandinavische, kanadische, japanische ... Schulalltag zeigt, keine Segregation in Hauptschüler und Gymnasiasten. (Karl Heinz Gruber, DER STANDARD, Printausgabe, 21.5.2010)