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Im letzten Augenblick nach Cannes gekommen: Apichatpong Weerasethakul wurde für "Uncle Boonmee" ausgezeichnet.

Foto: REUTERS/Jean-Paul Pelissier

Cristina Nord sprach mit ihm über die Situation in seiner Heimat und die Politik seines Kinos.

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Standard: Wann haben Sie Bangkok verlassen?

Weerasethakul: Am Donnerstag. In der Nacht zum Freitag bin ich angekommen. Ich hätte es fast nicht geschafft, weil die Situation sich ständig verschlimmerte. Mein Pass war im Stadtzentrum, in der gefährlichsten Gegend, dort konnte niemand mehr hin. Ich bekam einen Ersatzpass vom Ministerium für Kultur. Und ich bat die Botschaften um Hilfe. Es war ja der Tag, an dem sich die Anführer der Rothemden stellten. Das hat eine Menge Chaos hervorgerufen, Gewaltausbrüche überall in der Stadt. Und die Regierung hat eine Ausgangssperre angekündigt.

Standard: Es muss seltsam sein, nach so einer Erfahrung in Cannes anzukommen.

Weerasethakul: Ja. Und das Problem ist: Meine Familie ist ja dort. Sind sie in Sicherheit? Es war eine schwere Entscheidung, hierherzukommen. Aber zugleich habe ich gedacht: Ich muss meinen Film hier angemessen vorstellen.

Standard: Die Rothemden sind im Norden Thailands besonders stark. Sie selbst sind im Nordosten groß geworden, und Ihre Filme spielen dort. Was macht diese Gegend aus?

Weerasethakul: Was das Wetter und die Landwirtschaft angeht, sind die Bedingungen harsch. Das bedeutet: Die Menschen sind arm. Wer in Thailand arm ist, wird leicht zum Gegenstand politischer Manipulation, zum Beispiel durch Stimmenkauf. Das Gesundheits- und das Bildungssystem sind nicht gut. Das ist der Hauptgrund für die jetzigen Probleme; die Unruhen mussten irgendwann ausbrechen, es ist ein Bürgerkrieg und ein Klassenkampf. Aber es ist zugleich komplizierter, denn die Armen sind zwar Teil der Bewegung der Rothemden, aber eben auch die Reichen, und die Politiker haben andere Beweggründe als die Armen. Ich frage mich noch immer, was meine Position in diesem ganzen Durcheinander ist.

Standard: Und wie sehen Ihre Überlegungen aus?

Weerasethakul: Meine Überlegungen, oder besser: meine Gefühle, sind: Ich bin nicht glücklich, aber ich bin froh, diese wichtigen Ereignisse zu erleben. Wir haben diese Art von Klassenkampf in Thailand noch nicht erlebt; es ist eine starke Botschaft an die Regierung. Diese reagiert mit Zensur, sie unterdrückt Nachrichten und bestimmt, was im Fernsehen läuft. Die Leute wissen heute aber mehr, sie haben ein Bewusstsein, das sie vereint: Wir sind an der Nase herumgeführt und mit Propaganda zugeschüttet worden, seit wir denken können, und das ist jetzt der Augenblick des Aufwachens.

Standard: Vor einem Jahr haben Sie gesagt, Ihr bisheriges Filmwerk sei sehr persönlich gewesen, nun wollten Sie politischer werden. Was bedeutet politisch für Sie?

Weerasethakul: Ich mache noch immer persönliche Filme, aber das Politische ist in meine Privatsphäre eingedrungen. Alles ist politisch, das Private, die Redefreiheit, die Sexualität, und jetzt gerade geht es um die Freiheit der Thailänder, um meine Freiheit, die bedrängt und zerquetscht wird. Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives ist wie meine früheren Filme, nur an die neuen Verhältnisse angepasst, bewusster.

Standard: Ihr neuer Film ist ja aus Ihrem "Primitive Project" hervorgegangen. Tiere, Geister und Menschen koexistieren darin.

Weerasethakul: Der Nordosten Thailands ist stark beeinflusst von der Kultur der Khmer. Das heißt, es gibt animistische Traditionen und den Glauben an die Seelenwanderung. Tiere, Menschen und Pflanzen bilden drei zirkulierende Daseinsformen. Ich hoffe, dass das Publikum deren Präsenz im Film spürt. Es kann ein Wels sein, es kann alles sein. (Cristina Nord, DER STANDARD/Printausgabe 25.5.2010)