Sie war künstlerisch begabt, ökonomisch arm und in den letzten Jahren ihres kurzen Lebens lungenkrank. Am 27. Mai 1942 wurde Lili Grün zusammen mit 981 anderen österreichischen Jüdinnen und Juden deportiert und kurz darauf, am 1. Juni 1942, im weißrussischen Maly Trostinec ermordet.
Über das Leben und Werk der Wiener Autorin und Kabarettistin war bislang nur wenig bekannt und es wäre - so wie jenes unzähliger ihrer ZeitgenossInnen - ganz dem Vergessen anheim gefallen, hätte sich nicht eine engagierte Publizistin daran gemacht, die wenigen Puzzlesteine über Lili Grün zusammen zu tragen und mit der Neuauflage ihres ersten Romans "Herz über Bord" - nunmehr "Alles ist Jazz" betitelt - in einem ausführlichen Nachwort zu veröffentlichen.
Wer war Lili Grün?
Anke Heimberg, der wir diese Erinnerungsarbeit verdanken, war auf der Suche nach 20er-Jahre-Literatur von Frauen auf einem Flohmarkt auf Lili Grüns Berliner Kabarett-Roman "Herz über Bord" aus dem Jahr 1933 gestoßen. "Nach der Lektüre des Romans war ich absolut begeistert und wusste sofort: Dieses Buch müssen unbedingt mehr LeserInnen kennen lernen", beschreibt Heimberg ihre Motive für die Neuauflage. Aufgrund "seines authentischen Lokalkolorits, seiner Lebendigkeit und seines Sprachwitzes" zähle es zu den besten Berlin-Romanen der 1920er-Jahre. "Neugierig geworden, versuchte ich herauszufinden, wer hinter der Autorin Lili Grün steckt. Doch die Einträge in den wenigen biographischen Literaturlexika, die Lili Grün überhaupt verzeichnen, waren äußerst spärlich, lückenhaft, widersprüchlich, kurz: unbefriedigend. So begab ich mich selbst auf 'Spurensuche' und begann, in den Archiven und Bibliotheken des In- und Auslands nach Lili Grün und nach weiteren Werken von ihr zu suchen".
Das Eingehen auf die Frage "wer war Lili Grün?" erwies sich demnach 65 Jahre nach deren gewaltsamen Tod als ein äußerst schwieriges Unterfangen. Ohne die Existenz eines Nachlasses, privater Dokumente wie Briefe etc. war Anke Heimberg zum einen auf die spärlichen Hinweise in literarischen Nachschlagewerken und Zeitungsberichten angewiesen und zum anderen auf die beiden Romane der Autorin, in denen sich autobiografisches Material vermuten lässt.
Literaturgeschichtliche Quellen
"In Vernichtungslagern starben unter vielen anderen (...) Lili Grün (...), ein rührendes Mädchen, das mit seinem zarten Roman 'Herz über Bord' zum ersten Mal in dem fatalen Jahr 1933 hervortrat. Ihre Lebensgeschichte bliebe im Dunkeln, und sie wäre vom Erdboden weggewischt, als hätte es sie nie gegeben, würde ihrer hier nicht Erwähnung getan", schrieb Hilde Spiel im Kapitel "Die österreichische Literatur nach 1945" ihres literaturgeschichtlichen Grundlagenwerks "Die zeitgenössische Literatur Österreichs", das sie 1976 herausgebracht hatte.
Hilde Spiel hatte Lili Grün persönlich gekannt, nachdem beide kurz hinter einander mit ihren Romanen beim Zsolnay Verlag debütiert hatten. Lili Grüns "Herz über Bord" war am 16. März 1933 erschienen und Hilde Spiels "Kati auf der Brücke" am 30. März 1933. Und beide Romane waren vom Zsolnay Verlag für den Julius-Reich-Dichter-Preis empfohlen worden.
Erst dreißig Jahr später wurde Lili Grün erneut aus dem Dunkeln geholt, in dem sie - zwar lückenhaft, aber immerhin - im Nachschlagewerk "Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945" von Petra Budke und Jutta Schulze angeführt wurde. Einen weiteren Hinweis gab es im Jahr 2000 in dem von Siglinde Bolbecker und Konstantin Kaiser publizierten "Lexikon der österreichischen Exilliteratur". Das war so gut wie alles.
Biografische Skizzen von Anke Heimberg
Geboren als Elisabeth Grün am 3. Februar 1904 in Wien, wuchs Lili als jüngstes von fünf Kindern im fünfzehnten Wiener Gemeindebezirk auf. Ihr Vater Hermann war ein Schnurrbartbinden-Fabrikant und vertrieb Parfumerie- und Friseursbedarfsartikel. Ihre Mutter Regina/e starb 1915 47-jährig völlig unerwartet an einem Hirnschlag. Diesen frühen Verlust bemühte sich Lili Grün in ihren Werken literarisch aufzuarbeiten, vermutet Anke Heimberg. Denn auch im Buch "Herz über Bord" schrieb sie: „Nach Mutters Tod ist die große, große Einsamkeit gekommen".
Nach der Grundschule absolvierte Lili Grün eine kaufmännische Ausbildung zur Kontoristin, um eine Brotberuf zu haben. Theaterbegeistert war sie jedoch von klein auf und dürfte als junges Mädchen an Wiener Theatern zuerst Kinderrollen und später StatistInnen- und KomparsInnenrollen gespielt haben. Belegt ist, dass sie im Roten Wien der Goldenen 20er-Jahre an der neu gegründeten Bühne der sozialistischen Arbeiterjugend aufgetreten ist.
Lili Grün war eine fortschrittliche Denkerin, wie sich in ihrem Roman widerspiegelt. Ihre Frauenfiguren kreierte sie als emanzipierte "neue Frauen" der 1920er-Jahre, die auch sexuelle Beziehungen zu Männern selbstbestimmt und ohne Trauschein selbstverständlich leben. An vielen Stellen scheint zwar die Sehnsucht nach der großen Liebe durch, trotzdem verharren sie nicht länger in Liaisonen, die ihnen nicht bekommen. Offene Gespräche ohne Tabus über "die Männer" sind unter Freundinnen normal. Die Protagonistin Elli sucht darüber hinaus in einem Mann nicht bloß einen Geliebten, sondern einen „wirklichen Freund", warmherzig und auf gleicher Augenhöhe, der sie ernst nehmen und an ihr sowie ihrer Arbeit tatsächlich interessiert sein soll.
Als mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er-Jahre auch das Kulturleben in Mitleidenschaft gezogen wurde, bekam Lili Grün dies am eigenen Leib zu spüren. Die Situation der KünstlerInnen spitzte sich zu, in den Zeitungen damals war von "Verelendung" der Kulturtreibenden die Rede, die Armenkrankheit Tuberkulose verbreitete sich. In dieser schwierigen Zeit traf Lili Grün - genauso wie sie es im Roman "Herz über Bord" beschreibt - auf die Kabarettszene in Berlin und war kurz darauf im Jahr 1931 Mitglied des politisch-literarischen Kabarett-Kollektivs "Die Brücke". Ein neuer Abschnitt hatte begonnen: Abends trug sie ihre eigenen Gedichte vor, tagsüber arbeitete sie in einer Konditorei. Die Hoffnung war - jedoch nur für kurze Zeit - wieder da. Schon nach einigen Monaten musste das Kabarett, unter anderem von der Berliner Deutschen Tageszeitung als "Kommunistisches Hetzkabarett" verunglimpft, schließen.
Doch wenigstens wurden einige Gedichte und Geschichten Lili Grüns im Zeitgeist-Magazin "Tempo", im "Berliner Tageblatt" und im "Prager Tagblatt" gedruckt. Und auch ihr Roman "Herz über Bord" erhielt in der Wiener Presse gut Kritiken. Das Neue Wiener Tagblatt betrachtete das Buch als "beachtenswerten Beitrag zur Zeitgeschichte der jungen Generation", der Wiener Tag lobte es als neusachlichen Roman und die Neue Freie Presse schrieb, dass die „dokumentarische, literarische Qualität dieses Erstlingsbuches (...) über jeden Zweifel erhaben" sei. Daraufhin folgten Übersetzungen ins Ungarische und Italienische.
Krankheit und Armut am Ende
Anke Heimberg mutmaßt, dass Lili Grün noch in Berlin an Tuberkulose erkrankt und danach nach Wien zurück gekehrt ist, um in einer Lungenheilstätte zu gesunden. Sie erholte sich auch kurz, doch im Oktober 1933 flammte die Krankheit erneut auf. Sie konnte kaum arbeiten, lebte von Tantiemen ihres Buches und einem Vorschuss vom Zsolnay Verlag für ihr zweites Buch "Loni in der Kleinstadt". Der Verlag war es auch, der eine Spendenaktion durchgeführt hat, um der Lungenkranken einen Kuraufenthalt im Frühjahr 1935 in Meran zu finanzieren. Während "Loni in der Kleinstadt" im Herbst 1935 erschien, wurde Grüns Novelle "Anni hat Unrecht" nicht verlegt, und ihr letzter Roman "Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit" wurde lediglich als Zeitungsabdruck im Wiener Tag 1936 veröffentlicht.
Mit der NS-Okkupation Österreichs 1938 waren der jüdischen Schriftstellerin alle Publikationsmöglichkeiten verwehrt. Aufgrund ihrer Krankheit und Armut hatte sie auch keine Möglichkeit, zu emigrieren. Im Sommer 1938 wurde sie mit der Begründung "Nichtarier" aus ihrer Wiener Wohnung vertrieben und hauste nach mehreren Etappen zuletzt in einem Armenquartier für Jüdinnen und Juden in der Neutorgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk.
Heute bestehen zwei Denkmäler im zweiten Bezirk in Wien gegen das Vergessen von Lili Grün. In der Heinestraße 4 besteht seit 2007 ein Gedenkstein und ein neu gestalteter Platz im Bereich Klanggasse / Castellezgasse wurde 2009 nach ihr benannt.
(Dagmar Buchta/dieStandard.at, 24.06.2010)