Die Existenzkrise der EU und des Euro hält Europa in Atem. Wenn man die Stellungnahmen der letzten Wochen Revue passieren lässt, bleibt eine Schlussfolgerung unbestritten: Direkt oder indirekt, offen oder verklausuliert wird die Kanzlerin Angela Merkel zum Sündenbock gemacht.

So wirft ihr mit ungewöhnlicher Schärfe der frühere (grüne) deutsche Außenminister Joschka Fischer in einem Spiegel-Interview vor: Der Rettungsplan hätte bereits im Februar kommen müssen; wäre die Bundeskanzlerin nicht gewesen, hätte Europa schon viel früher handeln können. "Angela Merkel hatte in den vergangenen Wochen ihr Rendezvous mit der Geschichte. Das hat sie anders als Helmut Kohl nach dem 9. November 1989 und Gerhard Schröder nach dem 11. September 2001 ziemlich versemmelt."

Dass abgetretene Politiker nichts so genießen, wie ihren siegreichen Rivalen für vermeintliche Versäumnisse strenge Rügen zu erteilen, ist gängige Praxis. Beim Fall Merkel deuten aber auch gewichtigere Persönlichkeiten vorsichtig Kritik am Kleinmut und am vorauseilenden Verzicht auf eine entschlossene und rechtzeitige internationale Kooperation an. In seinem flammenden Aufruf für europäische Führungskraft und Solidarität ("Wir brauchen Europa!" ) verweist der Philosoph Jürgen Habermas in der Zeit auf das berühmte Foto von versteinerten Gesichtern von Merkel und Sarkozy: abgekämpfte Regierungschefs, die sich nichts mehr zu sagen hatten; ein Dokument der Krise. Habermas vermisst bei den Regierenden das Bewusstsein einer tiefen Zäsur nach den Brüssler Entscheidungen vom 8. Mai. Auch er sieht eine schlecht vorbereitete deutsche Politik und zitiert den angesehenen Europapolitiker, den luxemburgischen Regierungschef Jean-Claude Juncker, dass Merkels kühles Interessenkalkül die Bereitschaft vermisst, für Europa innenpolitische Risiken einzugehen.

Kürzlich nahm auch der Vater des Euro und der einflussreichste Ex-Präsident der EU Kommission, Jacques Delors, das vier Monate lange Zögern der europäischen Regierungen aufs Korn und fügte viel sagend hinzu: "Man wüsste schon gern, ob Europa für Deutschlands Regierende heute immer noch so wichtig ist wie einst für Adenauer, Schmidt und Kohl." Auch er deutet an, dass Europas Zukunft stark vom "deutsch-französischen Paar" abhängt. Allerdings warnt Delors, dass angesichts der Verwirrung der Bürger Politiker versucht seien, "zu einer kleinen Dosis Populismus und einer größeren Portion Nationalismus zu greifen" .

Die Rechnung Angela Merkels ging bekanntlich nicht auf. Die Schlappe in Nordrhein-Westfalen und der Verlust der Mehrheit im Bundesrat haben ihre Autorität auch im Lande selbst geschwächt. Joschka Fischer artikulierte die weit verbreitete Meinung, "die Deutschen müssen die Hauptlast schultern und der französische Präsident wird dafür gefeiert" . Ob Angela Merkel mit Umsicht und Entschlusskraft, allerdings mit einem schwer kranken Finanzminister Schäuble und einem zur Karikatur gewordenen Außenminister Westerwelle, die großen bevorstehenden Bewährungsproben in der Außen- und Innenpolitik noch bestehen kann, muss offenbleiben. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.5.2010)