Die paradoxe Wahrheit ist: Der Kapitalismus muss regelmäßig Geldwerte vernichten, sonst verarmen wir. - Polemische Anmerkungen zur Sprache der Krise und zur Logik des Schuldenmachens - Von Michael Amon

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Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst der Sanierung. Es ist fröhlich, lächelt mal jovial, mal gereizt, verschmäht es aber, seine wahren Absichten zu offenbaren. Die Krise ist unbestreitbar, daher schickt man die Sprache flanieren. Mit gezückten Federn haben die Bannerträger des Marktextremismus die Propaganda wieder aufgenommen, anstatt sich schmähstad hinter jenen Trümmern zu verstecken, die uns soeben dank ihres bisherigen Wirkens um die Ohren geflogen sind.

Das Lügen beginnt mit der kurzen Wortfolge "Die Märkte" und wird kombiniert mit Begriffen aus dem Setzkasten neoliberalen Wortmülls: "haben geurteilt", "offenbarten" oder "kann man nicht überlisten". Das sind aber bloß religiöse Glaubenssätze. "DIE Märkte" jedoch sind Menschenwerk, haben Namen und Gesichter: die der großen Macher, aber auch die der kleinen Hausfrauen - der Unterschied ist kleiner, als wir wahrhaben wollen. Stell dir vor, es ist Markt, und keiner hatscht hin. Blöderweise sind aber alle dort. Menschen treffen die Entscheidungen, nicht Märkte. Markt ist bloß jener gedachte Ort, an dem Menschen unter formbaren Bedingungen aufeinandertreffen. "Tand, Tand / Ist das Gebilde von Menschenhand", heißt es bei Fontane.

Auch der Spekulant hat ein Gesicht - und nicht nur eines. Kapitalismus ohne Spekulation gibt es nicht. In immer waghalsigeren Pirouetten wurde die Spirale des Exzesses in den letzten Jahren hochgeschraubt. Wir sind in Geiselhaft genommen und selbst zu Spekulanten degradiert worden. Für jeden Arbeitnehmer werden monatlich 1,53 Prozent des Lohns in Rentenfonds einbezahlt, die dafür sorgen, dass die Rendite stimmt. So wetten wir auf der Jagd nach hohen Zinsen gegen den eigenen Arbeitsplatz. Die angebliche Zukunftssicherung verspekuliert die Gegenwart. Da freut man sich richtig auf eine "Spekulationssteuer", die nur die anderen trifft. Auch Gerechtigkeit kann ein Schwindel sein.

Alle im gemeinsamen Boot

Weil wir alle gemeinsam im Boot der Spekulanten vor den Küsten Griechenlands kreuzten, müssen wir die Griechen jetzt vor sich selbst und vor uns retten. Man schnürt ein Griechenland-Paket, das ein Bankenpaket ist. Staaten können nicht Konkurs anmelden, nur ihre Kreditgeber. Nicht Griechenland retten wir, sondern die Banken! Wir haben nicht einmal noch die Suppe vom Vorjahr ausgelöffelt, schon bestellt man uns den nächsten Gang: Die Griechen haben zu viele Schulden gemacht, rufen uns die Marktextremisten zu. Nur deshalb konnten sie ein Opfer der Spekulanten, also von uns allen, werden. Wir alle hätten über unsere Verhältnisse gelebt, der ganze Sozialstaat nur aufgebaut auf Pump und Schulden. Quod licet Iovi, non licet bovi.

Von wegen Schulden: Unser bauernbundschlauer Finanzminister hat inseriert, mit wie vielen Schulden Neugeborene in Österreich zur Welt kommen, mit exakt 23.901 Euro nämlich - und jeden Tag werden es mehr, fügte man frohlockend hinzu.

Eine Grundregel des Steuersystems besagt, dass man sich nicht ärmer machen darf, als man ist. Würde ein Großkonzern auf die Idee kommen, nur seine Schulden, nicht aber das Vermögen zu veröffentlichen?

Unser Sparschweinderl der Nation macht das, denn man will uns erschrecken, reif machen für Angriffe auf unseren Wohlstand. Hier wird nämlich umverteilt. Von bovi zu Iovi. Die Banken kassierten zuerst hohe Risikozuschläge auf griechische Anleihen und jetzt Garantien, für den Fall, das was schiefgeht (und die Zuschläge bleiben im Haus!). Wir Rindviecher sollen zweimal zahlen. Darum jagt man uns ordentlich ins Bockshorn. Darum verkündet Herr Pröll nur die Schulden und verschweigt die Werte: Straßen, Autobahnen, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, Spitäler, Kanalisation, Kläranlagen, Infrastruktur aller Art - wir sind ein reiches Land mit ein paar Schulden. So wie Siemens mit 70 Milliarden Passiva ein reicher Konzern ist.

Trotz all der Schulden spricht man von Steuerentlastung und verschweigt, dass die Entlastung des einen (Iovi) die Belastung des anderen (bovi) ist. Aber man wird natürlich die Steuerschlupflöcher stopfen. Von wegen! Die Schlupflöcher vielleicht, aber die großen Scheunentore, durch die viel Geld bequem hindurchschreitet (Gruppenbesteuerung!), die bleiben sperrangelweit offen.

Meine Herrschaften, was hättet ihr denn mit dem ganzen Mammon gemacht, wenn nicht die Griechen und Spanier und Portugiesen so deppert gewesen wären, Kredite aufzunehmen, um sich so einen höheren Lebensstandard zu spendieren? Wer hätte denn für all das nutzlos herumliegende Kapital ohne Anlagemöglichkeit (Autoindustrie: 100 Prozent Überkapazität!) Zinsen bezahlt, wenn nicht wir, die Prasser? Wenn niemand Schulden macht, wer zahlt die Zinsen?

Die Schuldenbremse ist der Tod des Kapitalismus. Pröll als Kryptokommunist, das hat was. Was würden die Superreichen mit zinsbefreitem Geld machen?

Wessen Geld?

Die paradoxe Wahrheit ist: Der Kapitalismus muss regelmäßig Geldwerte vernichten, sonst verarmen wir. Wir haben nur die Wahl, wessen Geld wir vernichten: das der Reichen oder das der breiten Masse der kleinen Leute. Ich ziehe Ersteres vor, weil ich zu Letzteren gehöre. Wir haben zu wenig Geld der Reichen verjankert. Wir hätten mehr in den Sozialstaat stopfen und höhere Löhne zahlen sollen (was gleich auch den Abstand zum Arbeitslosengeld vergrößern hätte!). Mit jeder Gewinnsteigerung haben wir die Blase gefüttert. Mit jedem Lohnverzicht, jeder Bankensanierung das hungrige Kapital vergrößert. Wir haben mit dem Verzicht auf Steigerung der Masseneinkommen die Kapriolen und jene Krise finanziert, für die wir jetzt noch einmal bezahlen.

Es leuchtet zwar ein, dass man auf Dauer nicht mehr ausgeben als einnehmen kann. Aber im Kapitalismus hat sich das Einleuchtende noch immer als falsch erwiesen. Daher gilt: Wir haben unter unseren Verhältnissen gelebt. Das tut dem Kapitalismus nicht gut. Wir hätten uns lieber ein gutes Leben auf Pump machen sollen, als die Banken zu füttern. Nur wer über seine Verhältnisse lebt, lebt gut. Glücklich, wer nichts zu verlieren hat als seine Schulden! (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29./30.5.2010)