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Schon Michael Moore hat sich vor sechs Jahren in Fahrenheit 9/11 über das armeelose Island als US-Verbündeten im Irakkrieg lustig gemacht. Der Zusammenbruch des isländischen Finanzsystems vor eineinhalb Jahren und zuletzt die für den europäischen Flugverkehr verheerende Aschenwolke des Vulkans Eyjafjallajökull machten die Nordatlantikinsel zum Ziel allerlei Spotts. Nun steht Island vor einem Quantensprung in Richtung Realsatire. Dem 43-jährigen Jón Gnarr, dem vermutlich beliebtesten Komiker der Nordatlantikinsel, winkt der Bürgermeistersessel in Reykjavík, wo fast 40 Prozent der isländischen Bevölkerung leben.

Gnarrs wohl bekannteste Figur ist die des hyperintelligenten, aber gescheiterten Multiakademikers Georg Bjarnfredarson, der sich als mieselsüchtiger Tankwart durchs Leben frettet. Hinter der Maske des absurden Clowns geht es Gnarr dabei stets um ernste Themen wie Umweltzerstörung, Wirtschaftsverbrechen, Korruption oder menschliche Eitelkeiten. Mit seiner vergangenes Jahr scheinbar als Parodie geschaffenen Scherzpartei Besti Flokkurinn (Beste Partei) zog Gnarr dabei typisches Politiker- und Parteiverhalten durch den Kakao. Absurde Wahlversprechen wie die Einführung der Korruption konterkarierte er durch die Garantie, diese Versprechen nach der Wahl ohnehin zu brechen.

Immer mehr Isländer sehen in Gnarr - mit bürgerlichem Namen Jón Gunnar Kristinsson - offenbar einen ernstzunehmenden Politiker. Seit Bekanntgabe seiner Kandidatur Anfang April gelang es Gnarr, eine ungeahnte Zahl potenzieller Wähler - laut jüngsten Umfragen mehr als 40 Prozent - für sich zu vereinnahmen. Unter seinen Kandidaten finden sich Prominente wie etwa der Ex-Bandkollege des isländischen Popstars Björk, Einar Örn Benediktsson.

Der isländische Politologe Ólafur Hardarson sieht in den Umfragen eine "gelbe Karte" für die etablierten Parteien. Das gilt für die am Bankencrash von 2008 mitverantwortlichen Konservativen und Rechtsliberalen ebenso wie für die derzeit regierenden Sozialdemokraten und Grünen, von denen sich die Isländer enttäuscht fühlen. Wenn Gnarr Bürgermeister wird, wäre das eine "rote Karte" für die gesamte Politik - gewissermaßen die zweite nach dem Icesave-Referendum von Anfang März. Damals lehnten 93 Prozent der Isländer die kollektive Rückzahlung privat verursachter Bankenschulden an Briten und Niederländer ab. (Andreas Stangl/DER STANDARD, Printausgabe, 29.5.2010)