Der einzige Ausweg für Jerusalem, seien ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern. Mit ihm sprach Christoph Prantner.
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STANDARD: Wie schätzen Sie die diplomatischen Langzeitfolgen dieses Vorfalls ein?
Primor: Er ist sehr schädlich für das Ansehen Israels, das ja ohnehin schon stark ankratzt ist. Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch einen Friedensprozess gibt. Morgen hätte Premier Netanjahu mit Präsident Obama sprechen sollen. Ich halte das für entscheidend, weil die beiden Kontrahenten, die Regierungen in Jerusalem und Ramallah, viel zu schwach sind, um irgendetwas in Bewegung zu setzen. Beide trauen sich nicht, echte Verhandlungen zu führen. Dabei bräuchte es gar nicht viel. Wir haben mit den Palästinensern 15 Jahre lang verhandelt und es ist alles klar. Nur muss man einen Weg suchen, wie man die Vereinbarungen, die man schon längst getroffen hat, in die Tat umsetzt.
STANDARD: Leadership ist also in Israel und Palästina nicht zu haben, es muss aus den USA kommen?
Primor: Ja. Netanjahu will wie jeder Politiker an der Macht bleiben. Dafür muss er seine Koalition zusammenhalten. Um seine Koalition zusammen zu halten, muss er vor allem vermeiden, irgendeine wichtige politische Entscheidung zu treffen. Denn sobald er etwas in Bewegung setzt, verliert er einen Teil seiner Koalition oder sie zerfällt ganz. Er weiß genau, was das bedeutet, denn das ist ihm 1998 passiert. Er hat damals mit Arafat verhandelt und wurde von seinem eigenen Lager gestürzt. Wenn aber etwas unter Druck der Amerikaner passiert, dann kann er ja quasi nichts machen, das verstehen sogar die Rechten. Wir sind von den USA derartig abhängig, dass wir den Amerikanern nichts verweigern können.
STANDARD: Die Obama-Administration hat sich zunächst sehr deutlich geäußert, dann hat es plötzlich einen Rückzieher in der Siedlungspolitik gegeben. Warum?
Primor: Was Clinton und Obama gesagt haben, ist das, was die US-Präsidenten immer gesagt haben. Das ist nichts Neues. Die Frage ist, ob die Amerikaner bereit sind, sich einzusetzen und Druck auszuüben. Auf beiden Seiten. Sie tun es nicht. Warum nicht? Weil die amerikanische Öffentlichkeit das nicht haben will. Wenn Sie sich die Umfragen ansehen, werden Sie sehen, dass es eine massive Mehrheit in Amerika gibt, die in Bezug auf den Nahen Osten nichts anderes will als dass man Israel bedingungslos unterstützt.
STANDARD: Und das wird sich auch nach diesem Vorfall nicht ändern?
Primor: Die Situation bröckelt. Ich sehe den Vorfall als ein wichtiges Element im Rückgang des israelischen Ansehens, nicht nur in Europa, auch in Amerika. Nur in Amerika steht Israel erheblich besser da, selbst wenn es an Gewicht verliert, ist es noch mächtig.
STANDARD: Warum hat es Israels Armee so weit kommen lassen?
Primor: Ich kann es nicht erklären. Ich höre Propaganda von beiden Seiten und ich weiß nicht, was sich wirklich abgespielt hat. Aber eines kann ich Ihnen sagen, die israelische Regierung konnte es sich nicht leisten, den Konvoi nach Gaza zu lassen. Das würde ihre Autorität in der Region, ihre Politik gegenüber der Hamas untergraben. Das konnte sie nicht. Was sie meines Erachtens aber tun sollte, ist, die gesamte Politik gegenüber dem Gazastreifen, gegenüber der Hamas zu ändern - aber das ist eine andere Geschichte.
STANDARD: Sind die Beziehungen zur Türkei endgültig zerbrochen?
Primor: Ja, aber das hat schon vorher begonnen. Vor zehn Jahren hätten es die Türken nicht zugelassen, dass dieser Konvoi startet. Aus meiner Sicht ist das sehr gravierend, wir brauchen die Türkei, sie ist ein sehr wichtiger Partner für uns, vor allem in Sicherheitsfragen. Es ist ein sehr großer Schaden entstanden.
STANDARD: Was kann die israelische Regierung tun, um aus dieser PR-Katastrophe zu kommen?
Primor: Ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern aufnehmen. Dann wird sich die Stimmung total verändern. (DER STANDARD, Printausgabe, 1.6.2010)