Im Grunde sind wir alle moralisch mitschuldig. Wer hat sich denn noch um den Gazastreifen gekümmert, an der freundlichen Mittelmeerküste gelegen, eine Bevölkerung zwischen dem inneren Hammer der Hamas und dem äußeren der israelischen Absperrung, kollektiv bestraft für das falsche Wahlergebnis und für die Präsenz von Extremisten nicht nur von Israel, sondern von der internationalen Gemeinschaft?

Es geht nicht (nur) um die schlechte Versorgung, die der von Israel mit fatalen Folgen aufgebrachte "Hilfskonvoi" natürlich nur symbolisch lindern sollte. Es geht um den Skandal an sich, eineinhalb Millionen Menschen einfach so vergessen zu können. Diese Schiffe und das Ende ihrer Fahrt haben schlagartig auf diese Versäumnisse aufmerksam gemacht.

Auf den Schiffen vor Gaza waren nicht nur harmlose Pazifisten. Auf beiden Seiten ist der Konflikt unerschöpflicher Quell für Instrumentalisierungen aus unterschiedlichen Motiven, und es ist bedauerlich, dass sich Leute, die es gewiss gut meinen, mit Radikalen gemeinmachen. Und ja, die antiisraelische Stimmung in der Türkei, woher die Schiffe kamen, hat zugenommen und ist nur allzu oft mit inakzeptablen antisemitischen Tönen unterlegt. Aber erklärt oder rechtfertigt das, was Montagfrüh vor der Küste Gazas, in internationalen Gewässern, über die Bühne ging? In welchem Film befanden sich jene, die die israelische Eliteeinheit losschickten, die die Schiffe entern sollte? Mit dem Seil vom Hubschrauber, wie cool ...

Wenn nicht so viele Menschenleben verlorengegangen wären, so stünde jetzt wohl die Abhandlung der "Dummheit" des israelischen Einsatzes im Vordergrund. Wie auch israelische Kommentatoren schon vorher geschrieben hatten, war die israelische Entscheidung, sich für den Empfang dieser Schiffe zu rüsten wie für einen Krieg, nicht nur kontraproduktiv, sondern entscheidender Teil der Publicity der Aktivisten. Fast dankbar wurde die Provokation - die es ja sein sollte - aufgenommen. Ihr provoziert, wir eskalieren.

Man kann umgekehrt sagen, die Aktivisten wussten demnach, was auf sie zukam. Aber nein, sterben wollten sie nicht, und sie hatten es auch nicht verdient. Oder will uns die israelische Regierung wirklich sagen, dass es keinen Unterschied mehr macht, von welcher Art eine Aktion ist?

Außer dass der Gazastreifen plötzlich wieder auf der Landkarte ist - etwas, was die israelische Regierung ganz bestimmt nicht wollte -, sind die Folgen noch völlig offen. Wenn man die Region kennt, gibt man sich nicht der Illusion hin, dass dies alles zu einem Einhalten, zum Nachdenken - aller - führen wird. Eher werden sich die Fronten weiter verhärten. Das Kriegsgetrommel an der nördlichen Grenze klingt nun umso gefährlicher. Die Geschehnisse vor Gaza haben in Erinnerung gerufen, dass im Nahen Osten im Widerspruch zum Sprichwort sehr oft so heiß gegessen wird wie gekocht.

Die türkisch-israelischen Beziehungen gehen endgültig den Bach hinunter. Und das regionale und internationale Kopfschütteln über die Mossad-Aktion in Dubai hat sich noch nicht gelegt, da kommt der nächste Schlag für das Ansehen Israels. Kritik und gefühlte Isolation werden aber nur jene in der israelischen Rechten bestärken, die ihr Land nicht nur in der Region, sondern auf der ganzen Welt von Feinden umgeben sehen. Dabei leiden heute die Freunde Israels weit mehr, als sich die Feinde freuen können. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 1.6.2010)