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In der tibetischen Medizin wird Akupunktur mit goldenen Nadeln durchgeführt - zum Ausleiten. Behandelt werden damit Kopfweh, Verkühlungen, hohes Fieber und Erbrechen.
Forscher warnen vor wachsender Kommerzialisierung.
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Im medizinischen Supermarkt ist die tibetische Medizin ein boomender Sektor. Immer mehr Ärzte, Wellnesseinrichtungen und buddhistische Zentren haben auch tibetische Gesundheitsberatung im Angebot, und die Nachfrage steigt.
"Dieses Phänomen lediglich als Rückbesinnung auf traditionelle Formen der Medizin zu deuten greift viel zu kurz", ist der Medizinanthropologe Stephan Kloos von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften überzeugt. Sein Fazit nach jahrelanger Feldforschung in Indien, den USA und Österreich: "Die tibetische Medizin ist nicht nur der wichtigste Wirtschaftsfaktor im tibetischen Exil, sondern spielt auch eine zentrale Rolle im Kampf der Exiltibeter um Identität."
Ungefähr 120.000 Tibeter leben zurzeit im Exil, die meisten von ihnen in Indien. Gleich nach der großen Flüchtlingswelle 1959, als die Tibeter gegen die chinesischen Besatzer rebellierten, setzte der Dalai Lama Strategien zur Rettung der tibetischen Kultur im Exil um: Man versammelte die Flüchtlinge möglichst konzentriert in größeren Siedlungen und versuchte, das tibetische Schulsystem und die wichtigsten Klöster wieder aufzubauen. "Damit wurde eine Art Parallelwelt zum besetzten Tibet konstruiert", berichtet Stephan Kloos.
Ausgangspunkt seiner vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Studie war die unter Exil-Tibetern häufige Aussage, dass es die wichtigste Aufgabe der tibetischen Medizin sei, die tibetische Kultur zu bewahren. Da die Tibeter über keinen eigenen Staat mehr verfügen, ist die Kultur - spinnt man diesen Gedanken weiter - und damit auch die Medizin die Basis für ihren Fortbestand als Nation auch im Exil. Wie aber kann eine traditionelle medizinische Schule so etwas leisten? Kommt es hier nicht zwangsläufig zu Widersprüchen zwischen kulturellen, religiösen, politischen und medizinischen Anforderungen? Fragen, die immerhin zur bislang umfassendsten ethnografischen Studie tibetischer Medizin außerhalb Tibets führten.
Generell wird die tibetische Medizin vor allem von Exiltibetern mit tibetischer Kultur und diese wiederum mit buddhistischer Ethik gleichgesetzt. Die Medizin steht daher auch für zentrale buddhistische Werte wie Altruismus und Mitgefühl und muss damit den Spagat zwischen ihrer fortschreitenden Kommerzialisierung und dem von ihr geforderten Bewahren dieser Werte schaffen.
Mehr Profitorientierung
Eine gefährliche Gratwanderung, die von den Tibetern selbst heftig diskutiert wird. "Die Profitorientierung ihrer Medizin wird zurzeit als größere Gefahr gesehen als die chinesische Regierung", weiß Stephan Kloos aus seinen umfangreichen Recherchen, die ihn eineinhalb Jahre lang auch an die wichtigste Institution der tibetischen Medizin führte - das Men-Tsee-Khang im indischen Dharamsala. Mit seinen über 50 Kliniken in ganz Südasien macht dieses medizinische Zentrum einen jährlichen Gewinn von bis zu 350.000 Euro. "Das klingt wenig, ist für exiltibetische Verhältnisse aber sehr viel", weiß der Anthropologe.
Einer zu starken Profitorientierung versucht das Men-Tsee-Khang entgegenzuwirken, indem es die Gewinne für Forschung, Ausbildung, neue Kliniken und Abgaben an die tibetische Exilregierung verwendet. Problematischer wird von vielen die Ökonomisierung der tibetischen Medizin vor allem im Westen oder durch private Ärzte in Indien gesehen.
Als schlimmstes Negativbeispiel wird aber meist die Situation in Tibet selbst herangezogen, wo die tibetische Medizin von chinesischen Geschäftsleuten mittlerweile völlig verkommerzialisiert sei. Von den pharmazeutischen Betrieben, welche die Heilkräuter produzieren, sei nicht einmal mehr die Hälfte in tibetischer Hand. Im Exil dagegen konnte das Men-Tsee-Khang die Integrität der tibetischen Medizin relativ lange wahren. Bis in die 1990er-Jahre hatte diese mit dem Dalai Lama in enger Verbindung stehende Institution quasi ein Monopol auf die tibetische Medizin. "Von dort", so Stephan Kloos, "ist auch ihre weltweite Verbreitung ausgegangen, dort wurden die Ärzte ausgebildet, die Medikamente hergestellt und Modernisierungen vorgenommen."
Organisierte Mediziner
Da tibetische Medizin sowohl im Westen als auch in Asien immer beliebter wird und beträchtliche Verdienstmöglichkeiten eröffnet, gibt es immer mehr Ärzte, die tibetische Medizin auch außerhalb der Men-Tsee-Khang-Kliniken praktizieren. Seit 2004 sind diese Mediziner im "Central Council of Tibetan Medicine" auch politisch organisiert. Damit werden die akuten Fragen der tibetischen Medizin - Wie wollen wir sie regulieren und standardisieren? Welche Forschungen sollen durchgeführt werden? Wo ziehen wir die Linie zum kommerziellen Ausverkauf? - erstmals auch von Playern außerhalb des Men-Tsee-Khang mitentschieden.
Was bedeutet das für die tibetische Medizin? "Die Tendenz geht in Richtung Pluralismus. Der Einfluss des Men-Tsee-Khang geht zurück, auch wenn es immer noch der wichtigste Akteur der tibetischen Medizin im Exil ist", sagt Kloos. "Dadurch wird es aber auch zu einer stärkeren Verwässerung kommen. Strömungen innerhalb der tibetischen Medizin, die sich noch intensiver dem New-Age-Sektor, dem Wellness-Bereich oder anderen westlichen Gesundheitsmoden anzupassen versuchen, werden vermutlich zunehmen."
Die wachsende Kommerzialisierung wiederum wird mehr jene Ärzte anlocken, die vor allem auf materiellen Gewinn aus sind. "Damit ist aber die Gefahr verbunden, dass die tibetische Medizin ihre Funktion als Träger der tibetischen Kultur und damit ihre politische Wirksamkeit verliert", befürchtet der Anthropologe. (Doris Griesser/DER STANDARD, Printausgabe, 02.06.2010)