Allenthalben sind in Ungarn Landkarten zu sehen, auf denen das heutige, kleine Ungarn eingebettet in einem viel größeren Ungarn, demjenigen der ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie, dargestellt ist. Das ist nicht nur auf historischen Karten in Museen so sondern auch auf nationalistischen Erinnerungszeichen und Kriegerdenkmälern. Jüngst kommen zu den vergilbenden Wahlplakaten (der rechtsextremistischen Jobbik-Partei) Aufkleber auf vielen Autos und in der Landschaft angebrachte Tafeln dazu. Diese sind etwa auch auf öffentlichem Grund aufgestellt, religiös-nationalistische doppelbalkige Ungarn-Kreuze dürfen dabei nicht fehlen und manchmal sind sie mit der auch für heutige Ungarn überflüssigen Erläuterung "Trianon" versehen. Oder sie tragen die provokante Aufschrift: "Nein, nein, niemals" , wenige Kilometer von der Grenze zur Slowakei und zur Ukraine oder zu Rumänien entfernt.

Man kann aus diesem ikonografischen Menetekel erkennen, dass die "ungarische Seele" den Friedensvertrag von Trianon noch immer nicht akzeptiert. Am 4. Juni 1920 hatte das wie Österreich besiegte Ungarn den Friedensvertrag unterzeichnet, durch den aus dem immer schon multinationalen alten Ungarn (mit seinen Nebenländern, über 20 Millionen Einwohner) rund 12 Millionen eine neue Staatszugehörigkeit erhielten.

Viele der bis dahin Slowakisch, Rumänisch, Serbischen, Kroatisch und andere nichtungarische Sprachen Sprechenden, die bis dahin arger nationalistischer Diskriminierung und Assimilationspolitik ausgesetzt gewesen waren, erlangten so ihre "nationale Erfüllung" in Staaten, die selbst große fremdnationale Minderheiten einschlossen. Im Vergleich mit den damals fast acht Millionen Ungarn in einem Kleinstaat lebten nach 1920 über drei Millionen Bürger ungarischer Herkunft und Sprache in den neuen Nationalstaaten; sie waren nach Abwägung vielfältiger Interessen von den Friedensmachern nach dem Ersten Weltkrieg gebildet worden, meist, wirtschaftlichen, verkehrspolitischen, strategischen und historischen Ansprüchen folgend, erfüllten jedoch selten Standards von politischer Gerechtigkeit. Eine (zugunsten Ungarns ausgehende) Volksabstimmung wurde nur ein Jahr später in Ödenburg (Sopron) durchgeführt.

Nationales Trauma

Dies war und blieb das Trauma der "ungarischen Nation", von dem sich viele Entwicklungen der Geschichte bis 1945 bzw. 1948 und verstärkt wieder seit 1989 herleiten lassen: Ungarns Hinwendung zu einem ersatzhabsburgischen Rechtskonservatismus (Horthy), zu dem das europäische Staatensystem in den 30er-Jahren sprengenden Revisionismus, der Ungarn an die Seite Italiens (mit Dollfuß-Österreich) und schließlich NS-Deutschlands und in den Zweiten Weltkrieg brachte. 1938 und 1940 schienen die von Hitler erzwungenen Wiener Schiedssprüche diese nationalistischen Visionen zu erfüllen, jedenfalls zu einem Teil.

Noch während des bereits verloren gehenden Weltkriegs trug dieser Traum von einem tausendjährigen Großungarn dazu bei, dass sich nach der Besetzung des Landes durch die Wehrmacht die radikalfaschistischen Pfeilkreuzler in dieser Denkrichtung profitieren konnten. Selbst in dem 1945 wieder entstehenden ungarischen Staat (fast) in den Grenzen von 1920 lebten Illusionen, einen Teil dieser Grenzrevisionen zu erhalten, weiter, bis der Pariser Friedensvertrag von 1947 diesen Aspirationen einen schweren Dämpfer versetzte, aber trotzdem, wie die am Wiener Zeitgeschichteinstitut tätige Historikerin Regina Fritz in ihrer Dissertation erforschte, die "kollektiven Erinnerungen" beschäftigt hat.

Die KP-Machtübernahme konnte dieses Thema auch nur "verdrängen", aber selbst Kadar verwies auf der KSZE-Konferenz in Helsinki wieder auf die 1100-jährige ungarische Staatsgeschichte und die ungarischen Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg. Es lebte jedoch im Untergrund weiter und kommt nun, seit dem Systemwechsel 1989/90, wie manche andere "verdrängte Vergangenheit" auch, in beunruhigender Vehemenz zurück. Eine Revision von Trianon spielt auch heute wieder eine wichtige Rolle in der ungarischen Politik. Die außerhalb der Grenzen lebenden ungarischen Minderheiten stellen einen jahrzehntelangen Streitpunkt zwischen Ungarn und seinen Nachbarn dar, der gerade jetzt eine emotionale, hochpolitische Instrumentalisierung erfährt.

Bereits im Dezember 2004 rief die ungarische Staatsversammlung auf die Initiative des "Weltbundes der Ungarn" ein Plebiszit über die Doppeltstaatsbürgerschaft aus, das jedoch auf Grund der niedrigen Wahlbeteiligung scheiterte. Vor und nach ihrem Wahlgewinn vor wenigen Wochen griff die rechtsnationalistische Fidesz den Vorschlag wieder auf und modifizierte das ungarische Staatsbürgerschaftsgesetz, so dass auf Antrag jede im Ausland lebende Person die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten kann, dessen Vorfahren ungarische Staatsbürger waren und der die ungarische Sprache beherrscht. Dazu kam der provokante Versuch des ungarischen Präsidenten einen (privaten) Besuch in der ungarischen Minderheitsgebieten der Slowakei zu machen, der jedoch von slowenischer Seite verboten wurde. So hat auch das slowakische Parlament als Gegenmaßnahme ein Gesetz beschlossen, durch das alle slowakischen Staatsbürger, die eine andere Staatsbürgerschaft annehmen, jene verlieren. Es tobt ein Nationalitätenkampf über die nur noch auf dem Papier bestehenden Grenzlinien innerhalb Schengen-Europas hinweg, der jetzt noch im Landesinneren weiter angeheizt wird:

Am 31. Mai nahm die ungarische Staatsversammlung ein neues Gesetz an, das am 4. Juni in Kraft tritt und den Friedensvertrag von Trianon als "für das Ungarntum größte Tragödie des 20. Jahrhunderts" nun auch offiziell festschreibt.302 Abgeordnete, meist von Fidesz und Jobbik, stimmten dafür, nur 55 Parlamentarier (alle MSZP) dagegen und 12 enthielten sich der Stimme. Die Sozialistische Partie Ungarns wird daran nicht teilzunehmen, jedoch in Erinnerung an Trianon eine Großversammlung abhalten.

Trianon ist ein zentrales Thema für die rechtsextreme Jobbik-Partei (17 Prozent) und ihre faschistische Schlägergarde, neben Roma- und Judenhass, Kampf gegen das internationale Finanzkapital und für rassistisch gefärbtes Ungarntum. Aber auch breite Teile der ungarischen Bevölkerung sind für diesen Bazillus nicht immun, wie der Erfolg von Fidesz (53 Prozent der Stimmen) unter Premier Orbán zeigt, der auf dieser nationalistischen Welle mitschwimmt.

Beispiel Versailles

Schon in der Zwischenkriegszeit hat in Deutschland ein ähnlich starkes nationales Trauma - Versailles - eine politisch unheilvolle Rolle gespielt. Der Aufstieg des Nationalsozialismus wäre ohne die breite und fast alle Parteien erfassenden nationalistischen Revisionswünsche nicht denkbar gewesen. Natürlich kamen auch andere innergesellschaftliche und politisch destabilisierende Faktoren hinzu, dass die Weimarer Republik schließlich unterging und Hitler seinen Expansionspolitik einleiten konnte. Versailles wird seit einigen Jahrzehnten von westlichen Historikern wie Erich Hobsbawm, nicht nur von den alten nationalistischen Traditionalisten, sehr kritisch gesehen, ähnliches gilt auch für Saint Germain. - Wäre es nicht an der Zeit, Trianon als Verletzung der nationalen und demokratischen Selbstbestimmungsechte, die Wilson für die Beendigung des Weltkriegs postulierte, zu sehen, ohne das rechtsnationalistische und faschistische Programm zu übernehmen oder gar zu stärken und eine Revision der Grenzen im heutigen Europa zuzulassen? Vielleicht könnte nach einer Abkühlungsphase und unter subkutanem Druck der EU auch eine Anerkennung des historischen Unrechts Ungarns nationalistischem Überschwang etwas den Wind aus den Segeln nehmen und sein Übergreifen auf die ganze Region verhindern.

Nüchterne historische und politologische Analysen und verantwortlich-vorausschauendes Agieren ungarischer und europäischer Politiker wären dringend geboten. (Gerhard Botz, DER STANDARD, Printausgabe, 4.6.2010)