Zur Person:

Mia Segal (79) lernte Moshé Feldenkrais 1957 kennen und war bis 1973 seine einzige Studentin. Feldenkrais starb 1984. Segal lebt heute in Tel Aviv.

Foto: MBS Academy pls

Standard: Was bewirkt die Feldenkrais-Methode?

Segal: Ziel von Feldenkrais ist, Bewegungen bewusst zu machen und sich selbst besser kennenzulernen. In der Gruppe erfolgt das mit Worten, im Einzelunterricht nonverbal.

Standard: Wie funktioniert Feldenkrais nonverbal?

Segal: Wenn ich den Kopf eines Schülers rolle, tue ich es mit einer bestimmten Absicht: Er bemerkt, dass etwas mit ihm passiert. Dadurch verändert sich die Bewegung.

Standard: Wie verfolgen Sie diesen Prozess der Bewusstwerdung?

Segal: Die Weisheit von Feldenkrais besteht in der Erkenntnis, dass es immer andere Möglichkeiten gibt. Wir alle haben unsere Gewohnheiten zu sitzen, aufzustehen, uns zu bücken. Feldenkrais-Trainer helfen, Alternativen zu finden, damit etwa das Aufstehen keine Schmerzen bereitet.

Standard: Was passiert?

Segal: Wenn jemand mit Schmerzen beim Bücken kommt, muss ich sehen, was genau beim Bücken passiert. Dadurch erkenne ich, was schiefläuft und was ich tun kann, um zu helfen: Wie man sich anders hinsetzen kann, ohne dass es schmerzhaft ist. Der Erfolg hängt davon ab, wie präzise ich diesen neuen Weg vermitteln kann. Daran erkennt man den guten Feldenkrais-Trainer. Zu sagen: Schau, du sitzt auf diese Art, und das verursacht dir Schmerzen. Wenn du es anders probierst, gehen die Schmerzen weg.

Standard: Wie schnell stellen sich Erfolge ein?

Segal: Das ist schwierig zu sagen. Es hängt von mir und vom Schüler ab: wie schnell ich etwas zeigen kann und wie sensitiv jemand ist, um es zu verstehen. Wer sich danach umdreht und Schmerzen hat, ist hoffentlich bewusst genug, um zu bemerken, dass es Alternativen gibt.

Standard: Geht es darum, Bewegungen neu zu lernen?

Segal: Ja. Babys zeigen, wie das richtig geht. Erstens, weil sie alles mit Freude machen. Zweitens, weil sie alle Zeit der Welt haben. Drittens wiederholen sie ihre Bewegungen und hören auf ihren Körper: Wenn es zu viel ist, gehen sie nicht zu weit. Wenn die Bewegung schmerzhaft ist, hören sie auf. Wenn sie müde sind, treiben sie sich nicht an. Sie lernen auf eine Art, die genau zu ihnen passt.

Standard: Verglichen mit Yoga oder Pilates ist Feldenkrais nicht so populär. Woran liegt das?

Segal: Yoga ist älter. Moshé Feldenkrais entwickelte die Methode in den 40er-Jahren. Ich weiß nicht, wie sich Yoga in den ersten hundert Jahren verbreitete. Yoga ist im Westen noch nicht so lange populär. Ich denke aber auch, dass Feldenkrais seiner Zeit voraus war. Als Moshé Feldenkrais sagte, dass Körper und Geist miteinander verbunden sind, brauchte es lange Zeit, bis die Menschen das glaubten. Als ich in Amerika zu unterrichten begann, war dieses Wissen für viele neu. Heute weiß das jeder. Die Bewegungsabläufe von Pilates sind großartig. Aber es ist wie bei Feldenkrais: Der Erfolg hängt stark vom Trainer ab. Es gibt Trainer, die ein tiefes Verständnis von ihrer Arbeit haben und die Person, mit der sie trainieren, schnell dazu bringen, dass sie versteht, was sie tut.

Standard: Hat Feldenkrais auch Auswirkungen auf Geist und Psyche?

Segal: Natürlich. Wenn jemand Depressionen hat, verändern sich Atmung, Augen, Mund, Lippen, Schultern: Ich sehe das sofort. Wenn sich in diesen Körperhaltungen etwas verändert, hat das positive Auswirkungen auf die Psyche.

Standard: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Lehrer Moshé Feldenkrais?

Segal: Ich werde nie vergessen, als ich zu Moshé Feldenkrais kam und er mir seine erste Lektion gab. Als ich ihm zuschaute, begann ich zu verstehen. Gefühle und das Denken verändern sich.

Standard: Wie wichtig ist die Erfahrung?

Segal: Ich denke, je älter ich werde, umso besser werde ich als Trainerin, umso präziser sind meine Beobachtungen, umso besser kann ich sie weitergeben. Es gibt keine Grenzen. Alles kann ein kleines bisschen besser werden. (Doris Priesching, DER STANDARD Printausgabe, 7.6.2010)