Bild nicht mehr verfügbar.

Naoto Kan bei seiner ersten Pressekonferenz als Ministerpräsident in Tokio.

Foto: Reuters/Kato

Naoto Kan hat gute Voraussetzungen für den am meisten frequentierten Schleudersitz Japans: das Amt des Ministerpräsidenten. Er ist belastbar und beseelt. Das hat er 2004 bewiesen, als er wegen nichtgezahlten Rentenbeiträge als Vorsitzender der Demokraten zurücktrat. Er schor sich den Kopf kahl und brach zu einer Pilgerreise zu den 88 buddhistischen Tempeln der Insel Shikoku auf. Mehrere Wochen stapfte er durch höllische Hitze und sintflutartige Regenfälle und kehrte gestählt und geläutert in die Politik zurück.

Nun liegt ein ähnlicher Gewaltmarsch vor dem 63-Jährigen. Nach den Rücktritten von Ministerpräsident Yukio Hatoyama und dem Generalsekretär der Demokraten Ichiro Ozawa muss er kurzfristig ein Debakel seiner Demokraten in den Oberhauswahlen im Juli abwenden, langfristig zwei Versprechen seiner Partei erfüllen: die Revolution, die Wiederherstellung des Primats der Politiker über Japans mächtige Beamte, vollenden und mit Einsparungen und Steuererhöhungen das Land vor einer drohenden Schuldenkrise retten.

Viele Experten fragen sich, warum Kan 2009 seinem langjährigen Weggefährten Hatoyama den Vortritt auf das Amt des Ministerpräsidenten gelassen hat. Beide gründeten zwar gemeinsam 1996 die demokratische Partei und wechselten sich wiederholt bei ihrer Führung ab. Aber der schroffe, jähzornige Kan, der schon mal Mülleimer durchs Büro kickt, verkörpert den Revolutionär weitaus glaubhafter als der sanftmütige Multimillionär Hatoyama.

Kan hingegen ist die japanische Ausgabe des deutschen Exaußenministers Joschka Fischer. Kan ist Alt-68er. 1970 schloss er sein Physikstudium in Tokio ab und ließ sich als Patentanwalt nieder. 1974 stürzte er sich als Wahlkampfleiter für die linke Feministin Ichikawa Fusae erstmals in die Politik. Später gründete er diverse sozialistische Gruppierungen, bevor er 1980 nach mehreren gescheiterten Anläufen durch einen grünen Wahlkampf für den sozialdemokratischen Bund ins Parlament gewählt wurde.

In den politischen Irrungen und Wirrungen Anfang der 1990er-Jahre wurde er 1996 in einem Koalitionskabinett der Liberaldemokraten und mehrerer kleiner Gruppierungen zum Gesundheits- und Sozialminister befördert. In seiner kurzen Amtszeit schuf er sich den Ruf eines durchsetzungsfähigen Reformers, indem er gegen den Widerstand seiner Beamten einen Skandal um mit HI-Viren verseuchte Blutkonserven aufklärte.

Unter seiner Führung eroberten die Demokraten 2003 mehr Stimmen als die Liberaldemokraten. Doch immer wieder verhinderten Skandale Kans dauerhaften Aufstieg zum Spitzenkandidaten. 1999 trat er wegen einer außerehelichen Liebelei zurück, 2004 wegen des Rentenskandälchens.

Im ersten demokratischen Kabinett gab er sich dann hinter Hatoyama und Generalsekretär Ichiro Ozawa, der auch zurückgetreten ist, mit der Rolle des dritten Mannes zufrieden. In der Tat übernahm er mit dem Amt des Strategieministers die Rolle des Schwertmanns im Kampf gegen die Bürokratie. Im Jänner rückte er zum Finanzminister auf und brach sofort eine Diskussion über Steuererhöhungen vom Zaun. (Martin Koelling aus Tokio/DER STANDARD, Printausgabe, 5.6.2010)