Hart muss der Standortwettbewerb zwischen deutschen Städten sein: "Mögen die Kunstfestspiele gewinnen!" , entschlüpft es Bürgermeister Stefan Weil bei seiner Rede, worauf er den Satz auf "beginnen" korrigiert und mit "Aber gewinnen werden sie auch!" noch die Pointenkurve kratzt. Auch ohne den Versprecher wäre allerdings klar geworden, dass auch in Hannover, wo nun erstmals die Kunstfestspiele Herrenhausen gegeben werden, Kultur von der Politik über ihre außerkulturelle Rentabilität legitimiert wird. Quasi als Teil der Wohlfühl-Infrastruktur eines Standorts.
Wobei Hannover zurzeit quasi einen Lauf zu haben scheint: Lokale Politiker müssen in Interviews schon lustige Fragen beantworten, etwa, ob die Stadt "Mittelpunkt des Universums" sei oder ob es zumindest eine "Hannoverisierung" Deutschlands gebe. Schließlich stammen nicht nur die Scorpions aus Hannover; auch Lena, die nette Song-Contest-Siegerin, ist von dort. Und auch der womöglich zukünftige deutsche Bundespräsident Christian Wulff hat als Niedersachsens Landesvater seinen Hauptarbeitswohnsitz in Hannover.
Intendantin Elisabeth Schweeger weiß das wohl alles. Sie spricht jedoch lieber vom neuen Festival als "Möglichkeitsraum" , vom Brückenschlag zwischen Kunst und Gesellschaft, zwischen Tradition und Moderne, umgesetzt in den Herrenhäuser Gärten. Mit Bezug auf den barocken Universalgelehrten Leibniz, der die Gärten mitgestaltet hat und vom Zusammenspiel der Künste und der Wissenschaft träumte, setzt sie heuer mit dem Thema Macht des Spiels auf "interdisziplinären Dialog" . Solch emphatische Worte hat man schon an vielen Festivalorten gehört. Ein individuelles Festivalprofil erwächst aus ihnen allerdings erst, wenn die Projekte die Worte praktisch durchleben.
Kunst und Dialog
Neben Musik zwischen Barock, Jazz und Moderne (anhand von Oper, Konzert und Klanginstallation) setzt die Wienerin Schweeger (sie hat einen Fünfjahresvertrag) denn auch u. a. auf Kunst-Aktionen, Herrenhäuser Dialoge und eine Akademie der Spiele für Kinder und bietet zum Ausklang eine Lange Nacht der Oper. Zu Gast sind unter anderem der Schweizer Universalkünstler Roman Signer und die Duftkünstlerin Sissel Tolaas. Uraufgeführt werden Mirages vom Jazzklarinettisten Michael Riesslers, von Heiner Goebbels gibt es eine theatrale Musikinstallation. Und zugegen sind auch die Komponistin Rebecca Saunders sowie als Interpreten u. a. das Ensemble Modern und das Freiburger Barockorchester.
Einer, Christoph Schlingensief, konnte zu Eröffnung am Freitag nicht kommen - und daran ist der zurückgetretene deutsche Bundespräsident Horst Köhler schuld. Selbiger sollte nämlich nach Burkina Faso zu Schlingensiefs Operndorf Remdoogo fahren. Weil daraus nun nichts wurde, musste Schlingensief eilig nach Afrika statt nach Hannover.
Auch als Abwesender ist Schlingensief indes extrem vital. Per Videobotschaft ermuntert er zu Spenden. Und als mehrfacher Pappkamerad leitet er durch die Herrenhäuser Gärten zu jenem Ort, an dem seine Operndorf-Installation steht. Dort erklärt Architekt Francis Kere anhand von Modellen seine Konzepte zu Remdoogo - und es wird klar: Es ist dies eigentlich ein soziokulturelles Projekt für eines der ärmsten Länder der Welt. Bestehend aus Schulen, Film- und Musikklassen, Siedlungen, Krankenstation und Solaranlagen.
Danach im Galeriegebäude Teil einer prunkvollen theatralen Festgesellschaft zu sein mag einem etwas seltsam vorkommen. Die Qualitäten dieser Premiere von Claudio Monteverdis Orfeo, bei der die Zuschauer Teil des Geschehens sind, erweisen sich aber als unübersehbar. Regisseur Alexander Charim entwirft eine Hochzeitsgesellschaft voll ambivalenter Emotionen, setzt auf drastische Körpersprache und erreicht eine besondere Unmittelbarkeit auch durch die Integration des Publikums ins Geschehen.
Da auch die musikalische Seite, die mit Balkanfolk von Goran Bregović beginnt, überzeugt (glänzend Isa Katharina Gericke als Euridice und Carl Ghazarossian als Orfeo) und dies auch in der durch düstere Klänge (Kaleidoskop-Ensemble unter Olof Boman) inszenierten Pause, ist von einer Produktion zu berichten, die weitaus lebendiger und zeitgenössischer wirkt als vieles, was in Wien als Oper daherkommt. Und: Ein solches, die Gartenlandschaft ideenreich bespielendes Festival hat Wien ja auch nicht. (Ljubiša Tošić aus Hannover/DER STANDARD, Printausgabe, 7. 6. 2010)