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Mitglieder der Hamas-Flotte im Hafen von Gaza am Sonntag während einer Zeremonie zu Ehren der neun Türken, die auf dem Schiff Marvi Marmari vor Gaza getötet wurden.

Foto: AP/Amra

 Ankara nutzte den tödlichen Zwischenfall vor Gaza, um sich zu profilieren.

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"Staatsterror", "Israel ist dabei, seine Legitimität zu verlieren" oder auch "sie werden diesen Einsatz noch bereuen" - seit die israelische Marine am Montag letzter Woche das türkische Hilfsschiff Mavi Marmara kaperte und dabei neun Leute tötete, hält Ministerpräsident Tayyip Erdogan fast jeden Tag eine öffentliche Rede, in der sich sein Ton gegen den einstigen Alliierten immer weiter verschärft. Das ging bis zu indirekten Drohungen. Erdogan forderte kategorisch eine Bestrafung Israels. "Israel hat Blut an den Händen, die Türkei wird das nicht auf sich beruhen lassen." Im Ton des neuen Selbstbewusstseins fügte er hinzu: "Israel kann mit der Türkei nicht so umspringen wie mit anderen Ländern in der Region. Unsere Geduld hat Grenzen."

Gestern kündigte sein Außenminister Ahmet Davutoglu zu Beginn der internationalen Sicherheitskonferenz (siehe unten) an, Israel könne nicht eher wieder mit einer Normalisierung der Beziehungen rechnen, bis es nicht der Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission zugestimmt hat. Die türkische Regierung hat in der letzten Woche den tödlichen Zwischenfall auf hoher See konsequent genutzt, um sich international zu profilieren und sich im Bewusstsein der Menschen als muslimische Führungsnation zu positionieren.

Nicht nur aus Sicht der arabischen Länder, für die gesamte muslimische Welt ist die Türkei innerhalb weniger Jahre zu einem führenden Akteur geworden. Wenn Erdogan Israels Politik geißelt, jubeln nicht nur die arabischen Massen, auch in Malaysia und Indonesien wird geklatscht. Und selbst die konkurrierende Regionalmacht Iran macht ob ihrer isolierten Lage als Pariastaat dabei mit, den Aufstieg Ankaras auf der Weltbühne zu unterstützen. Nachdem Erdogan gemeinsam mit seinem brasilianischen Kollegen Lula da Silva den widerspenstigen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadi-Nejad zu einem Vertrag über die Anreicherung von Uran im Ausland überredete, schrieben Kommentatoren in aller Welt von einer neuen Machtachse, die notfalls auch gegen den Willen Washingtons aktiv wird.

Das zeigt sich an der neuen Politik der Türkei gegenüber Israel nun besonders deutlich. Mag der Wutausbruch Erdogans auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor knapp zwei Jahren, als er bei einer Diskussion mit dem israelischen Präsidenten Shimon Peres kurzerhand das Podium verließ, noch echten Emotionen entsprochen haben, so ist die Dauerkritik an Israel seitdem kühl kalkuliert.

Darüberhinaus unterhält die Türkei als einziger Natostaat direkte Verbindungen zur Hamas, und auch wenn der Hilfskonvoi nach Gaza eine zivilgesellschaftliche Aktion war, genoss er doch die volle Sympathie der türkischen Regierung. Die Verschlechterung der Beziehungen zu Israel ist der Preis für den Aufstieg als Regionalmacht. Die Türkei hat seitdem alle Visa - und viele Handelsschranken mit Syrien, dem Irak und Russland - aufgehoben. Der Handelsaustausch mit Israel ist minimal im Vergleich zu dem mit den genannten Staaten.

Erdogan und die AKP-Regierung warten auch nicht mehr auf die EU. Im Gegenteil: Es gelingt ihnen mittlerweile sogar, die EU und selbst die USA unter Zugzwang zu setzen. Die Türkei erreichte innerhalb von Stunden eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates, gestern musste auf türkischen Antrag die Nato zusammenkommen, und in Genf tagte der UN-Menschenrechtsausschuss. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul /DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2010)