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Lies H. (li.), als er vor wenigen Tagen zu einer Polizeibefragung abgeholt wurde. H. ist mit einer Frau verheiratet, soll laut Frankreichs Innenminister Hortefeux faktisch vier Frauen haben.

Foto: Reuters/Mahe

Jahrzehntelang verschloss Frankreich die Augen vor dem verbreiteten Phänomen der Polygamie. Jetzt will Innenminister Hortefeux härter dagegen vorgehen. Die Opposition kritisiert, dass Begleitmaßnahmen fehlen.

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Nach der Burka greift in Frankreich ein neues Reizwort um sich: Polygamie. Sie ist vor allem in Westafrika verbreitet - und erstaunlich häufig auch in Frankreich, wo sich zehntausende Afrikanerinnen den Gatten mit anderen Frauen teilen. Innenminister Brice Hortefeux will jetzt gezielt dagegen vorgehen.

Meist sind die Betroffenen noch in ihrer Heimat - etwa in Mali, im Senegal oder in Mauretanien - in Frankreich lebenden Männern versprochen worden, ziehen dann zu ihnen und leben in Pariser Vorstädten in oft miserablen Verhältnissen.

Im postkolonialen Frankreich war dieses Phänomen jahrzehntelang tabu. Die Justiz musste sich aber schon ab 1980 damit befassen: Damals erlaubte es der Staatsrat Musliminnen noch ausdrücklich, im Zuge der "Familienzusammenführung" nach Frankreich zu kommen, selbst wenn ihr neuer Gatte schon vorher verheiratet war. 1993 verbot Frankreich die Polygamie per Gesetz. Unterbunden wurde sie aber nicht. In den 90er-Jahren scheiterten Versuche, polygam lebenden Afrikanerinnen eigene Wohnungen zu vermitteln und ihnen die Scheidung zu ermöglichen, schlicht an der Finanzierung.

Laut Hortefeux sind landesweit 180.000 Personen - pro Familie im Schnitt drei Frauen, ein Mann und sechs Kinder - davon betroffen. Das ist selbst bei einer Landesbevölkerung von 65 Millionen eine beträchtliche Zahl. Und sie ist seit 1993 um ein Drittel gestiegen.

Hortefeux machte diese Angaben diese Woche, um gezielte Schritte gegen die Polygamie zu rechtfertigen. Neu ist, dass der Minister auch die "faktische" Polygamie verfolgen will. Häufig erfolge der mehrfache Eheschluss nur vor religiösen Instanzen, sodass zivilrechtlich keine Polygamie vorliege, begründet Hortefeux. Dem Präsidenten Nicolas Sarkozy schlägt er vor, den fehlbaren Ehemännern die französische Nationalität abzuerkennen.

Die Opposition wendet sich speziell gegen diese Sanktion. Polygamie gehöre bekämpft, aber nicht mit Entzug der Staatszugehörigkeit, meint Jean-Luc Mélenchon vom Parti de gauche (Linkspartei). Pariser Medien kritisieren, dass es nichts bringe, das Gesetz auszuweiten, wenn Frauen dabei keine sozialen "Ausstiegshilfen" zur Seite gestellt würden.

Weiters wird Hortefeux vorgeworfen, ein persönlicher Zwist sei Anlass für seine Initiative. Vor ein paar Wochen war in Nantes eine Autofahrerin von einem Polizisten zur Kasse gebeten worden, weil ihr Vollschleier ihr Blickfeld einenge. Ihr Mann Lies H., Franzose algerischer Herkunft, lieferte sich darauf mit Hortefeux einen öffentlichen Schlagabtausch und wurde am Mittwoch verhaftet.

Vorwurf des Betrugs

Hortefeux erklärte, der 35-Jährige lebe mit vier Frauen und 17 Kindern in faktischer Polygamie, wenngleich er zivilrechtlich nur eine Gattin habe. Die anderen drei Frauen bezögen Kinderzulagen als Alleinerziehende. Zusammen habe die Großfamilie in drei Jahren 175.000 Euro bezogen, 75.000 Euro mehr, als es getrennt gewesen wären. Der Hauptvorwurf des Sozialhilfebetrugs trifft nur dann zu, wenn der Tatbestand der Polygamie belegt ist. In dem Fall in Nantes leben die Frauen zwar in nebeneinander stehenden Häuschen, auf dem Papier existiert aber nur eine Ehe.

Vergangenen Donnerstag wurde H. wegen Betrugs und Schwarzarbeit angeklagt. Der Beschuldigte spricht von Heuchelei: Viele Franzosen hätten Mätressen. Der ehemalige Staatspräsident François Mitterrand habe die seinige sogar auf Staatskosten unterhalten. In den Internetforen entspannt sich nun die Debatte, wie weit dieser Vergleich zulässig ist - moralisch oder auch in Bezug auf die Sozialhilfe. (Stefan Brändle aus Paris/DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2010)