Um eine Einigung Europas voranzubringen, müssen erfahrungsgemäß drei Grundvoraussetzungen erfüllt sein.

Erstens: gute Ideen, die zu tragfähigen Konzepten führen.

Zweitens: "günstige" Umstände, notfalls eine Krise. Das sorgt für den nötigen Überzeugungsdruck.

Drittens: mutige, voll handlungsfähige Politiker, die über den Tellerrand schauen können; die sich trauen, heikle Entscheidungen zu treffen.

Wenn all das zusammenstimmte, dann hat die Union oft einen Sprung nach vorn gemacht, seit Jahrzehnten. Bei der deutsch-französischen Aussöhnung sowieso; als der Reihe nach gestürzte Diktaturen aufgenommen wurden, von Griechenland bis Portugal; als DDR, Warschauer Pakt und Sowjetunion zerfielen; 1999 im Kosovokrieg. Am schwierigsten war es für alle Beteiligten dies- und jenseits des Atlantiks wohl, als der deutsche Kanzler Helmut Kohl auf die Auflösung der DDR und der Nachkriegsordnung mit seinem Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Vereinigung antwortete. Aber die Partner bekamen das mit den USA und Russland hin, auch in der Nato.

Nimmt man nun die schwerste Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, die die Welt lähmt, so fällt auf, dass die Gemeinschaft seit zwei Jahren nicht und nicht zu gemeinsamen Reformen findet, um die Ursachen zu bekämpfen. Der jüngste EU-Gipfel in Brüssel - der achte seit September 2009 - ist schlagender Beweis. Wieder einmal haben die Staats- und Regierungschefs "Bekenntnisse" abgelegt: zu eng abgestimmter Budget- und Finanzpolitik, zu einer "Wirtschaftsregierung" , zu strengerer Überwachung der Schuldenbekämpfung.

Aber es gibt kein verbindliches Szenario. Selbst das, was noch am konkretesten ist - die Absicht zur Einführung einer europaweiten Bankenabgabe - hat einen Pferdefuß: Es wird das jeweils eine nationale Steuer sein, wahrscheinlich zur Budgetsanierung. Die EU wird davon nichts haben. Die Finanztransaktionssteuer ist praktisch tot: Die Union will den G-20 "vorschlagen" , dass eine solche "erforscht und entwickelt" wird, heißt es wolkig im Schlussdokument.

Folgt man der eingangs erwähnten goldenen Regel der EU-Integration, dann wird rasch klar, warum Europa politisch gelähmt ist: Die Umstände schreien geradezu nach Entscheidungen, Konzepte für eine Neuordnung der Finanz- und Wirtschaftswelt liegen fix und fertig auf dem Tisch, von Zentralbank, Kommission, EU-Parlament erarbeitet. Was fehlt, ist jene Handvoll entschlossener Regierungschefs, die mutig Kompromisse herbeiführen. Das wird noch länger so sein.

Kanzlerin Angela Merkel steckt in innerdeutschen Grabenkämpfen fest, Frankreichs Nicolas Sarkozy ist auf seine Wiederwahl 2012 fixiert, von Kommissionspräsident José Manuel Barroso kommt wenig. Das wäre die Chance für die kleinen EU-Länder, sich zusammenzutun, um die anderen anzutreiben. Aber es passiert nicht. EU-Kernstaaten wie Belgien und die Niederlande schlagen sich damit herum, wie sie mit ihren siegreichen Nationalisten in der Regierung umgehen. Von Österreich nicht zu reden, wo aktive EU-Politik mit Volksbegehrenspopulismus verwechselt wird.

Bleibt als "Hoffnungsträger" Präsident Herman Van Rompuy, von Amt und Persönlichkeit her nicht gerade übermächtig. Als geschickter Koordinator der schwachen Anführer Europas sollte er wenigstens dafür sorgen, dass der Euro nicht ausgehöhlt wird. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19./20.6.2010)