Von Dakar zieht "Bilal" mit dem Flüchtlingsstrom bis in die Sahara; auf klapprigen Lastwagen durchqueren sie die Wüste, unter unvorstellbaren Entbehrungen.

Foto: Kunstmann

Eindrucksvoll und schonungslos berichtet der italienische Aufdeckungsjournalist Fabrizio Gatti in seiner Reportage über die "moderne Sklavenpiste" von Afrika nach Europa. Er schreibt von den Gefahren, der Gewalt und der Angst, die Menschen auf der Flucht in ein vermeintlich besseres Leben in Europa begleiten.

Von Dakar nach Lampedusa

Seine "simulierte Flucht" führt Gatti zunächst mit klapprigen Zügen und Bussen von Senegal über Mali in den Niger nach Agadez, von wo aus der gefährlichste Teil der Odyssee beginnt - die lange Fahrt mit einem maßlos überladenen LKW durch die Ténéré-Wüste nach Libyen. An der Mittelmeerküste angekommen wird er schließlich als Kurde "Bilal" das gewalt- und fäkalienverseuchte Übergangslager in Lampedusa erreichen, um letztendlich ans Festland Italiens zu gelangen.

"Festung Europa"

Gattis Aufzeichnungen lassen uns eine Ahnung davon bekommen, wie unausweichlich die Flucht für viele Menschen in Afrika ist. Mit seinem Buch verleiht er all den Menschen eine Stimme, die als illegale, rechtlose und billige Arbeitskräfte in der "Festung Europa" angekommen die Jobs erledigen, für die sich die Europäer zu schade sind. Als "Bilal" gibt er auch jenen einen Namen, die vor Erreichung ihres Ziels in den rostigen Booten vor der italienischen Küste hilflos ertrinken.

Flucht aus Verzweiflung

Es gibt viele Gründe, warum sich vor allem junge afrikanische Männer auf den gefährlichen Weg durch die Wüste machen. Manche fliehen aus Kriegsgebieten, andere können nicht mehr ertragen, dass ihre Kinder täglich vor Hunger weinen müssen. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie verlassen ihre Heimat aus tiefster Verzweiflung und hoffen, durch Arbeit in Europa das nötige Geld zu verdienen, um sich und ihren Familien ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Europäische Verantwortung

"Manchmal liegt die Verantwortung für diese Gründe auch bei uns," betont Gatti in einem Interview mit 3Sat. "In Nigeria hat der Staat beispielsweise viele Menschen enteignet, um ihr Land den europäischen Ölfirmen zu überlassen. Deshalb ziehen die Jugendlichen in die Städte auf der Suche nach Arbeit und machen sich schließlich auf den Weg nach Europa." Rund fünfzehntausend Menschen - viele Männer, aber auch Frauen und Kinder - machen sich jeden Monat auf den Weg ins Ungewisse.

Verzerrtes Bild

Immer wieder schildert Gatti in seinem Erfahrungsbericht das verzerrte Bild, das von der Flucht nach Europa in Afrika vorherrscht. An der Wand des Fahrkartenhäuschens am Busbahnhof in Agadez etwa, von wo aus alle Wüstenschlepper starten, sind "mit Tesafilm Dutzende von Fotos befestigt. Schnappschüsse von lachenden Gesichtern vor gigantischen LKWs. Wie die Schwarz-Weiß-Fotos von Italienern, Deutschen oder Iren vor den Überseedampfern, die sie nach Amerika bringen sollten."

Für immer gestrandet

Nicht alle erreichen ihr Ziel. Für viele ist die Reise in eine bessere Zukunft bereits in Agadez zu Ende. "Mein Vater hat alles verkauft, was im Haus war. Das Moped, den Videorekorder, den Fernseher und den Kühlschrank. Für sie bin ich eine Investition. Denn wenn ich in Europa Arbeit finde, kann ich sie unterstützen," lässt Gatti den jungen Billy aus Nigeria zu Wort kommen. Neunhundert Dollar haben er und seine Familie für die Reise nach Europa gespart - doch mit einem Schlag verliert er seinen gesamten Besitz an einen korrupten Grenzbeamten. In Agadez gibt es keine Arbeit für Menschen wie Billy. Wie die vielen anderen "Gestrandeten" wird er seine Reise nicht fortzusetzen können, auch nicht, um wieder in seine Heimat zurückzukehren. (Jasmin Al-Kattib, 20.6.2010, daStandard.at)