Die Qualität der Schiedsrichterentscheidungen bei der Weltmeisterschaft gab Anfangs Grund zur Erleichterung, bis Schiedsrichter Koman Coulibaly aus Mali am 18. Juni ein völlig rechtmäßiges Tor der Vereinigten Staaten annullierte, das ihnen einen überaus wichtigen Sieg über Slowenien beschert hätte. Noch schlimmer ist, dass Coulibaly sich nie für seine fürchterliche Entscheidung rechtfertigen oder sie irgendjemandem erklären musste - weder den Spielern und Trainern auf dem Feld noch der Öffentlichkeit insgesamt.
Schiedsrichterentscheidungen im Fußball, egal wie ungeheuerlich falsch sie auch sein mögen, sind unanfechtbar und unveränderlich. Die Fußballfans auf der ganzen Welt werden sich immer an den empörenden Fehler erinnern, durch den Frankreich das entscheidende Tor gegen Irland zugesprochen wurde, mit dem sich die Mannschaft für das Turnier qualifizierte, trotz des offenkundigen Handspiels des französischen Superstars Thierry Henry.
Wir glauben, dass eine gemeinsame Bemühung zur Reformierung der Schiedsrichterpraxis im Fußball dringend notwendig ist. Schiedsrichterfehler beeinträchtigen das Spiel immer stärker auf allen Ebenen - landesweit und auf Vereinsebene, in Ober- und Unterligen, bei Turnieren und Spielen, die weltweit im Fernsehen übertragen werden, ebenso wie bei lokalen Wettkämpfen.
Überholtes System
Da diese Fehler große Auswirkungen auf den Ausgang entscheidender Turniere in dieser globalsten aller Sportdisziplinen haben, gefährden ihre Allgegenwart und Häufigkeit die Integrität des Spiels und somit seine grundlegende Legitimität. Aufgrund der rasanten Entwicklung der neuen Medien, die das Spiel immer globaler gemacht haben, sind derartige Episoden letztendlich immer stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten.
Was dieses Problem für die Zukunft des Fußballs so zentral macht, ist, dass die Fehler sich nicht aus der Nachlässigkeit oder Inkompetenz der Schiedsrichter ergeben. Sie reflektieren viel mehr das Tempo des Spiels, die Sportlichkeit der Spieler, die Größe des Felds und einen rätselhaften Widerstand der führenden Spielverbände, Regeln aus dem 19. Jahrhundert an die Gegebenheiten der Jetztzeit anzupassen.
Erstens sind Videoaufzeichnungen notwendig. Das würde das Spiel in den wenigen spielentscheidenden Situationen buchstäblich umdrehen, z. B. bei einem fälschlich annullierten Tor, einer irrtümlich gegebenen roten Karte oder einem krassen Abseitsfehler.
Man könnte eine Art übergeordneten Unparteiischen einsetzen, der das Spiel auf Videomonitoren verfolgt, offensichtliche Fehlentscheidungen sofort aufhebt und dem Schiedsrichter sowie den Linienrichtern auf dem Feld (die bereits mit Kopfhörern ausgestattet sind) diese Entscheidung mitteilt. Alternativ könnte man jeder Mannschaft die Möglichkeit geben, bis zu zwei Schiedsrichterentscheidungen pro Spiel anzufechten, wobei Videoaufnahmen eingesetzt würden, um Regelverstöße zu überprüfen und umstrittene Entscheidungen zu klären.
Dieses Verfahren gäbe den Schiedsrichtern auf dem Feld die Möglichkeit, ihre anfängliche Entscheidung gegebenenfalls aufzuheben. Zudem würden schnelle Überprüfungen nicht viel Zeit kosten oder den Spielfluss unterbrechen. Unter den derzeitigen Bedingungen nimmt die Schiedsrichterschelte durch die Spieler des gekränkten Teams mehr Spielzeit in Anspruch, als das bei einer Überprüfung jemals der Fall wäre.
Zweitens müssen wir den Ball mit einem Elektrochip ausstatten, um endgültig zu klären, ob ein Ball die Spielfeldgrenzen oder die äußerst wichtige Torlinie überschritten hat. Eine im Wesentlichen gleichwertige Technologie hat die Linienstreitigkeiten bei großen Tennisturnieren beispielsweise erfolgreich verringert.
Drittens sollte man ernsthaft die Einführung eines zweiten Schiedsrichters in Betracht ziehen, wobei jeder der beiden für eine Hälfte des riesigen Spielfelds zuständig wäre. Schließlich setzt die US National Basketball Association drei Schiedsrichter auf einer Spielfläche ein, die nur ein Neuntel der Größe eines Fußballfelds misst.
Rechenschaftspflicht
Und zuletzt muss die Kultur der Verschwiegenheit und mangelnden Rechenschaftspflicht verändert werden, die in den wichtigsten Verbänden wie der FIFA, der UEFA und den verschiedenen Landesverbänden vorherrscht. Kein anderer großer Mannschaftssport duldet die Arroganz von Verbänden, die sich in keiner Weise dafür verantwortlich fühlen, ihr Handeln zu erklären.
Diese Maßnahmen - sowie viele andere, darunter der überfällige Einsatz verfügbarer Technologien - würden die Leistung der häufig im Dunkeln tappenden Schiedsrichter verbessern, deren Autorität durch die starke Zunahme maßgeblicher Fehlentscheidungen bei großen Spielen und Meisterschaften stark gelitten hat. Obwohl keine dieser Maßnahmen neu ist, würde ihre Einführung für wesentlich mehr Klarheit und Gerechtigkeit im Fußball sorgen und somit zur Legitimität des Spiels beitragen. (Andrei S. Markovits, Lars Rensmann, DER STANDARD, Printausgabe, Donnerstag, 24. Juni 2010)