Die Österreichische Nationalbibliothek hat mit Google vereinbart, dass rund 400.000 Bände (aus dem 16. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts) aus ihren Sammlungen digitalisiert werden sollen. Damit ist das elektronische Buch - endlich - auch am Wiener Heldenplatz gelandet, und sogleich hagelte es Proteste, hier werde das "österreichische Bucherbe (...) verkauft" (IG Autoren in einem Protestschreiben). Das ist Unsinn, macht aber sichtbar, was wirklich im Argen liegt: die Bereitschaft, unseren Umgang mit Büchern in zeitgemäßen Bahnen zu entwickeln.

Bücher sind nach wie vor das wichtigste Bildungs- und Wissensmedium und vom Urlaubskrimi bis zur erzählten Geschichte, die dann verfilmt wird, die Grundlage für jede Menge Unterhaltung. Wegen dieser Schlüsselrolle werden Buchkultur und Buchindustrie in Österreich oder Deutschland mit zahlreichen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Maßnahmen unterstützt (Urheberrecht, halbierter Mehrwertsteuersatz, feste Ladenpreise für Bücher, Verlagsförderung, Preise für Autoren, Übersetzer und Verlage ...).

Das ist gewiss notwendig und gut. Für die Lesenden aber haben sich Bücher und Lesen stets verändert und angepasst an gesellschaftliche wie technologische Veränderungen.

Bücher sind längst eingebettet in die Vernetzungen inhaltlicher Angebote - vom Schrott und Trash bis zum Informationseldorado, welche über Internet und mobile Kommunikation explosionsartig alle Lebensbereiche durchdrungen haben. Die Voraussetzungen waren plötzlich da, auch Text und Bild - wie schon Musik und Kommunikation - mobil überallhin zu tragen, wo Menschen gerade alle möglichen Inhalte nutzen wollen. Und seit ein, zwei Jahren stehen auch Lesegeräte zur Verfügung, um dies einigermaßen vernünftig und bequem zu nutzen.

Wie rasch unter solchen Voraussetzungen sich neue technische Möglichkeiten mittels neuer Gewohnheiten durchzusetzen vermögen, haben wir erst vor gut zehn Jahren mit Mobiltelefonen erlebt. Vieles spricht dafür, dass nun Bücher, Lesen, aber auch der Umgang mit anderen medialen Inhalten an der Reihe sind, und das Wort "Revolution" dürfte nicht zu dramatisch sein, um zu beschreiben, was da ins Rollen kommt.

Die interessante Frage ist indessen, warum Vertreter von Autoren oder Verlagen, statt die Möglichkeiten zu erkunden, die sich daraus für Bücher (und Lesende) eröffnen, vielmehr mit Angstszenarios um sich werfen, während die vermeintlich konservativste Gruppe der Beteiligten, die Bibliotheken, viel eher daran gehen, diese Zukunft mitzugestalten.

Ich habe dieser Tage versucht, mir das eine oder andere eben erschienene Buch als E-Book zu kaufen. Das wurde zu einem seltsamen Abenteuer.

Henning Mankells letzter Wallander-Krimi Der Feind im Schatten erschien gleichzeitig in der gebundenen Buchausgabe, als Hörbuch und als E-Book. Doch der Verlag verrät mir auf seiner Homepage nichts vom E-Book, meldet diese Ausgabe offenbar auch nicht an den Online-Händler Amazon, wo das E-Book auch nicht auffindbar ist. Nur auf dem Umweg über den Großhändler Libri finde ich die digitale Ausgabe und kann sie mit ein paar Klicks bestellen. Darf sich der Verlag dann wundern, wenn die Umsätze mit den elektronischen Büchern minimal sind?

Um den großen Konzernen wie Google oder Amazon Paroli zu bieten, entwickelt der deutsche Börsenverein seit Jahren sein Gegenportal Libreka. Henning Mankell finde ich auf Libreka zwar nicht, aber unter der E-Book-Suche nach "Mankell" tauchen 27 Treffer auf, darunter ein Band "Der begeisterte Freitod" (Libreka bietet zurzeit 1832 Belletristik-Titel als E-Books an, das ist weniger als jede mittelgroße Buchhandlung an gedruckten Romanen vorrätig hat). Nach Rücksprache mit dem Support von Libreka, der am Wochenende unbesetzt war, erfuhr ich, dass ich aus Österreich zurzeit noch gar keine E-Books bestellen kann. Meine Rückfrage beim Hauptverband des österreichischen Buchhandels - dem Partnerverband der Libreka-Mutter, dem deutschen Börsenverein - warum das so sei, blieb leider ohne Antwort.

Bei der Digitalisierung der ÖNB geht es demgegenüber "nur" um alte Bestände. Wenn allerdings im großen europäischen Bibliotheksprojekt Europeana etwa Grillparzer gerade mit einer Ausgabe aus einer polnischen Sammlung präsent ist und niemand bereit ist, eine breite Digitalisierung zu finanzieren, dann ist die Kooperation mit Google ein sinnvoller wie naheliegender Ausweg. Denn die 400.000 zu digitalisierenden Bände, die noch dazu überaus spannende Einblicke in die kulturelle und sprachliche Vielfalt ganz Zentral- und Südosteuropas vermitteln, werden eben nicht an Google verkauft, sondern die Nationalbibliothek erhält das Recht und die Mittel, diese Bestände dann in Europeana einfließen zu lassen. Man könnte der Nationalbibliothek also, ganz im Gegenteil, eher einen Vorwurf machen, wenn sie diese einzigartigen Sammlungen nicht für eine digitale Nutzung geöffnet hätte.

Bislang war die wichtigste Bremse für E-Books im deutschen Sprachraum, dass es kaum digitale Bücher gab. Projekte wie jenes der Nationalbibliothek und anderer Bibliotheken machen indessen sichtbar, dass es auch anders geht.

Innerhalb von knapp zwei Jahren haben es elektronische Bücher in den USA auf einen Umsatzanteil von zurzeit rund fünf Prozent gebracht. Die Buchmärkte hierzulande verzeichnen nach längerem Nullwachstum neuerdings erhebliche - entsprechend beklagte - Einbußen. Als Autor oder Verleger wollte ich nicht verzichten demgegenüber die neuen digitalen Möglichkeiten zu nutzen. Als Leser verstehe ich schlicht nicht, was diese unsinnige Debatte soll. (Rüdiger Wischenbart, DER STANDARD, Printausgabe 25.6.2010)