"Nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher", sagt der amerikanische Psychologe Paul F. Brandwein und setzt damit fort, was bereits seit Plato und Aristoteles sinnvoller Grundsatz der Gerechtigkeit ist: suum cuique, jedem das Seine, nicht nur: allen das Gleiche. So wie Menschen mit besonderen Bedürfnissen spezielle Förderungsmaßnahmen brauchen und Elternvertreterinnen und -vertreter sich deshalb zurecht gegen eine Abschaffung der Sonderpädagogischen Zentren wehren, so sehr brauchen auch Hochbegabte spezielle, auf sie zugeschnittene Förderung, wie sie ja in Schulen mit Begabungsförderung praktiziert werden. Der politisch durchsichtige Versuch, mit dem Hinweis auf etliche schlechte Ergebnisse von (städtischen) Volks- und Hauptschülerinnen und -schülern eine gemeinsame Schule der 10 bis 14-Jährigen zu etablieren, wird vielen Schülerinnen und Schüler nicht gerecht: die Begabteren sollen zu Hilfslehrern und Coaches für die Schwächeren gemacht werden, Lernschwächere werden ohne Differenzierung überfordert und frustriert. Wenn in einer Gesamtschule keiner zu schlecht sein soll, soll natürlich auch keiner zu gut sein. Dass jemand begabter oder auch nur anders begabt ist, wird im gesellschaftlichen Mainstream eingeebnet. "Gleichheit" ist das Ziel, Niveauverlust und Nivellierung nach unten sind die klare Folge sowie die Flucht in private und alternative Schulen.

Will man der Bevölkerung weismachen, dass in der schönen neuen gemeinsamen Schule alles besser wird, stellt sich die Frage: Wie soll auf einmal das alles klappen, was jetzt schon schwierig ist, wenn - gerade in Wien - dann noch heterogenere Gruppen zusammensitzen? 

Die gern gegebene Antwort lautet: durch Differenzierung. Dann gehen eben wie in manchen neuen Mittelschulen die Kinder in Mathematik in zwei verschiedene Kurse in zwei verschiedenen Klassen. Wird dann in allen Gegenständen differenziert? Warum nicht etwa in Physik? Wozu zuerst vereinheitlichen, wenn nachher wieder differenziert werden muss?

Warum gehen nicht auch im bestehenden Schulsystem zwei Lehrerinnen oder Lehrer in alle Klassen? Braucht man dazu die Gesamtschule? Oder sollen tendenzielle Gesamtschulversuche durch doppelt so viele Lehrer von vornherein besser abschneiden, um dann, sobald sie zur Regel geworden sind, personell und finanziell wieder reduziert zu werden? So wollen viele mit hinkenden Argumenten die schöne neue Welt der Gesamtschule herbeischreiben und lancieren dabei gerne verschiedene Mythen.

Mythen und Fakten 

Frühzeitige Schullaufbahnentscheidungen verhindern optimale individuelle Bildungserfolge, heißt es da etwa, wenngleich die seit Jahrzehnten bekannte Faktenlage bis in die jüngste Gegenwart für eine frühzeitige Differenzierung der Bildungswege im Sekundarschulbereich und gegen gemeinsames Lernen nach der vierten Volksschulklasse spricht. (Lehmann & Lenkeit, Berlin 2008; Fend, Berger & Grob, Hessen 2009). 

Wie der Münchner Direktor des Zentrums für Begabungsforschung der Ludwig-Maximilian-Universität Kurt A. Heller erklärt, werden nicht "nivellierende Einheitsschulen", sondern „ausreichend differenzierte Lernangebote und Schullaufbahnen" den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Sekundarstufenschüler gerecht. Die Behauptung, wonach in begabungs- und leistungsheterogenen Lerngruppen und Einheitsschulen eine Minderung der Leistungsunterschiede bei gleichzeitiger Verbesserung der Leistungsförderung aller möglich sei, ist eindeutig empirisch widerlegt (Heller).

Die Hoffnung, dass mit längeren gemeinsamen Lernphasen die soziale Gerechtigkeit und die Entwicklungschancen sogenannter bildungsferner Bevölkerungsgruppen langfristig verbessert werden können, hat sich ebenfalls als bedauerlicher Irrtum herausgestellt.

Auch die These, dass bei vielen Kindern aus entwicklungspsychologischen Gründen eine Eignung für das Gymnasium oder die Hauptschule erst im fünften oder sechsten Schuljahr feststellbar sei, entbehrt einer gesicherten empirischen Grundlage. 

Im Sinne der Wahlfreiheit der Eltern und ihrer Kinder bekennt sich der Katholische Familienverband der Erzdiözese Wien (KFVW) zu einem hochwertigen, differenzierten Bildungsangebot mit verschiedenen Schultypen für die 10 bis 14-Jährigen und lehnt eine verpflichtende Gesamtschule ab.

Die schlechten Ergebnisse etlicher Volks- und Hauptschulabsolventinnen und -absolventen in Wien sollten also nicht als Argument zur Abschaffung der Gymnasien missbraucht werden, sondern Ansporn zur Verbesserung der Bildung in Volks- und Hauptschulen sein. Zusätzliche Begleitlehrerinnen und Begleitlehrer, die Wiedereinführung von Förderstunden, mehr muttersprachlichen Begleitunterricht und vermehrte Klassenteilungen sind gerade im Sinn bestmöglicher Förderung und Chancengleichheit zu fordern. (Andreas Cancura/DER STANDARD Printausgabe, 26.6.2010)