Mesaye in ihrer Klasse in der Worke-Kosso-Schule. Die Fünfjährige erschien täglich beim Unterricht, bis man sie trotz des Widerstands ihrer Eltern und einer anderslautenden Schulordnung einschrieb. Foto: Springer

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Mesaye bedeutet "Mein Mittagessen" . Hätten die Eltern bei der Geburt ihrer Tochter schon gewusst, wie sehr Mesaye einmal darum kämpfen würde, zur Schule zu gehen, hätten sie sich vielleicht für einen Namen wie "Die Zielstrebige" oder "Die Fleißige" entschieden. Dabei sieht man der kleinen Äthiopierin gar nicht an, welche Kraft in ihr wohnt. Der an ihrem Hals hängende Maria-Theresien-Taler wirkt klobig zwischen ihren schmalen Schultern. Wenn das Mädchen mit den großen Augen, kaum die Lippen bewegend, das amharische Alphabet vorliest, haucht sie die Silben schüchtern hervor.

Doch Mesaye verfügt über beachtliches Durchsetzungsvermögen: Sie marschierte als Fünfjährige beharrlich jeden Tag zur Worke-Kosso-Volksschule - gegen den Willen ihrer Eltern und obwohl es von der Schulleitung hieß, sie sei zu jung. Schließlich schrieb man sie doch in die 1. Klasse ein, die sie jetzt besucht. Dabei ist es trotz Schulpflicht nicht selbstverständlich, dass Mädchen in Äthiopien überhaupt zur Schule gehen. Hier im Hochland leben die Menschen fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Auch die steilsten, bis auf einzelne Bäume leergeholzten Hänge werden bewirtschaftet, mit einfachen Pflügen, von langhörnigen Rindern gezogen.

Die Männer kümmern sich vorwiegend um Feld und Vieh. Die Frauen und Mädchen holen, oft in stundenlangen Märschen und zwei- bis viermal täglich, das Wasser. Das steht dem Schulbesuch häufig im Weg. Und viele Eltern fürchten, ihre Töchter könnten auf dem Weg zum Unterricht von Männern entführt werden.

In der Region Midda, in der Worke Kosso liegt, hat sich seit zehn Jahren dank dem Verein "Menschen für Menschen" (MfM) vieles verbessert. Die Frauen müssen jetzt maximal 1,5 Kilometer weit zu einem Brunnen gehen. Entsprechend hoch ist der Mädchenanteil in den Klassen: Unter den 423 Schülern in der 2008 von MfM eröffneten Worke-Kosso-Volksschule sind 205 weiblich.

Der Verein, 1981 vom früheren Schauspieler Karlheinz Böhm nach einer Fernsehwette bei "Wetten dass ...?" gegründet, hat in Äthiopien neben dieser mehr als 240 Schulen bauen lassen - und zahlreiche Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Bauern realisiert. Nach der Fertigstellung werden die Bildungsstätten der Regierung übergeben.

MfM muss eng mit den Behörden zusammenarbeiten; mit einer Regierung, die von "Human Rights Watch" scharfer Kritik wegen des autoritären Führungsstils von Premier Meles Zenawi ausgesetzt ist. Die Partei EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes) gewann die Wahlen im Mai 2010. Wahlbeobachter kritisierten, es habe Einschüchterung und Gewalt gegeben.

"Jeder muss mit der Regierung arbeiten. Eine NGO, die sagt, sie tut das nicht, lügt" , sagt Almaz Böhm, Karlheinz Böhms Frau und seit 2008 geschäftsführender MfM-Vorstand. "Was hilft der Bevölkerung zum Beispiel eine Schule, die leersteht?" Jede Maßnahme, die MfM setze, werde mit den Menschen vor Ort erarbeitet und mit den regional zuständigen Behörden abgestimmt. Die Zusammenarbeit funktioniere gut. Nur die Mühlen der Bürokratie mahlten etwas langsam. "Die Regionalbehörden können es sich nicht leisten, sich uns entgegenzustellen" , meint Böhm. Im Jahr 2008 flossen laut MfM 1,76 Mio. Euro von der Organisation direkt in Projekte" im Land. Geld, das unter anderem "ein Fundament für Demokratie" baue, wie Böhm sagt. Durch Bildung.

Das eigene Gesicht erkennen

Als ob Mesaye das wüsste. Sie ist sehr fleißig, liest besser als viele Viertklässler und gerät dabei gar nicht nach ihrem großen Bruder: "Er ist auch hier (in dieser Schule), aber er unterbricht oft" , sagt sie und bringt die Klasse zum Lachen. Im Nebenraum ist es ruhiger. Hygieneunterricht steht auf dem Stundenplan. Ein Mädchen blickt zaghaft in den Wandspiegel neben der Klassentür. "Warum schauen wir da hinein?" , fragt Böhm. "Weil ich das Gesicht waschen muss" , sagt die Schülerin.

Der erste Blick ins eigene Antlitz ist für viele Kinder eine neue Erfahrung. Zu Hause, in den Lehm-Holz-Bauten ohne fließendes Wasser und ohne Strom, sind Spiegel Luxus. Viele Buben und Mädchen erkennen auf Fotos zwar ihre Freunde wieder, sich selbst aber nicht. "Vor sieben, acht Jahren habe ich den Hygieneunterricht initiiert" , erzählt Böhm. "Mir sind die vielen Fliegen schon auf die Nerven gegangen" , fügt sich lachend hinzu. Zum Waschen steht ein schuleigener Brunnen zur Verfügung. Zweimal täglich mit Seife und Wasser das Gesicht zu reinigen beugt Augeninfektionen vor, die zu Blindheit führen können.

Mesaye sieht so aus, als hätte sie heute schon gründlich ihr Gesicht gewaschen. Das Fach Hygiene hat es ihr aber nicht so angetan, Amharisch mag sie lieber. Trotz ihrer Liebe zur Landessprache, sagt sie auf die Frage, was sie später einmal machen möchte: "Nach Amerika gehen." Oder vielleicht, erklärt Mesaye nach kurzem Nachdenken, wird sie Lehrerin. (Gudrun Springer aus Worke Koss/DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.6.2010)