Hausaufgaben am Apple-Laptop im Immigrantenviertel: Wer Probleme hat, mitzukommen, wird in der Schule von Jakomäki mit langem Atem gefördert.

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Geformt werden sie in einer Schule, wo Lehrer ausgesiebt, Klassenzimmer abgeschafft und Sorgenkinder nicht abgeschoben werden.

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Joonas verzerrt Mitschüler zu Witzfiguren, er verpasst ihnen Wespentaillen, bläst sie auf wie Ballons. Sonja lässt Figuren zum Beat von Billie Jean über den Bildschirm hüpfen, während Jari Porträts in immer neuen Farbkombinationen spiegelt - fast wie Andy Warhol. Kein Lehrer stört die drei bei ihrer Spielerei, sie erledigen ihre Hausaufgaben wie andere Kinder auch. Nur dass sie eben nichts in Hefte kritzeln, sondern Videos am Computer fabrizieren.

Es ist kein Elitegymnasium, in dem da ein Apple-Laptop auf jedem Pult steht. Schmutzig-grau sticht der geduckte Betonbau aus dem Birkenwäldchen nordöstlich von Helsinki hervor, so manches Klassenzimmer schreit nach Renovierung.

Vietnamesen, Somalier oder Russen gehen hier, im Vorort Jakomäki, zur Schule, der Ausländeranteil ist höher als im Landesschnitt, die Arbeitslosigkeit sowieso. Doch gerade ihre Underdogs rücken die Finnen gerne ins Rampenlicht. Die Topschüler matchen sich mit ihresgleichen aus Südkorea oder der Schweiz; die finnischen Nachzügler aber sind unbestritten die besten der Welt.

"Wir sind nur fünf Millionen, da können wir uns nicht leisten, jemanden zurückzulassen" , sagen finnische Pädagogen mit einer Überzeugung, die in fremden Ohren fast pathetisch klingt. In Jakomäki versuchen rund 70 Lehrer und Assistenten dieses Glaubensbekenntnis in die Tat umzusetzen. Nichts soll hier vom Glück des Elternhauses abhängen, angefangen bei den Grundbedürfnissen. Die 500 Schüler, die in der Regel bis drei oder vier am Nachmittag bleiben, erhalten täglich ein Gratismittagessen. Auf Wunsch auch laktosefrei und ohne Gluten.

Die Lehrer - viele lassen sich mit dem Vornamen ansprechen - sitzen in der Kantine neben den Kindern, dafür gibt's in den Klassen Sonderbehandlung. Ob Legasthenie oder Kontaktscheu, Autismus oder simple Startschwierigkeiten beim Lesen: Sorgenkinder werden herausgepickt, gezielt gestützt, in maßgeschneiderten Gruppen immer neu zusammengewürfelt. Zuwandererkids bekommen Unterricht in der Muttersprache, schwierige Fälle sogar persönliche Studienpläne verpasst.

27 Prozent der finnischen Grundschüler kommen in den Genuss solcher Spezialförderung. Abschieben geht nicht mehr, seit der Nordstaat in 60ern und 70ern die Gesamtschule eingeführt hat. Während ein Gutteil der österreichischen Kinder schon mit zehn in die Hauptschule, also in die zweite Liga, verfrachtet wird, gehen alle jungen Finnen von sieben bis 16 Jahren gemeinsam in die "Peruskoulu" - 90 Prozent setzen den Bildungsweg danach Richtung Reifeprüfung fort. Auch in Finnland wehrten sich einst konservative Politiker und Lehrer, doch heute hält Bildungswissenschafter Jarkko Hautamäki für bewiesen, dass die Gesamtschule die soziale Kluft am Wachsen hindere: "Man kann seine Kinder in jede beliebige Schule schicken, die Qualität ist die gleiche. Privatschulen, wo Mütter im BMW vorfahren, gibt es praktisch nicht."

Dafür tauchen neugierige Gäste auf, um das nordische Wunder zu bestaunen, so viele, dass sich Hautamäki manchmal wünscht, "wir wären nur die Fünftbesten" . Der Professor ist eine Art Chefanalyst der Seriensieger beim Pisa-Test - und damit Fremdenführer durch die finnische Bildungslandschaft. "Das Geheimnis ist ..." , hebt Hautamäki an und blickt in erwartungsvolle Gesichter, die gleich ziemlich ratlos dreinschauen werden: "Unsere Schüler akzeptieren, den Stift in die Hand zu nehmen."

Die Kunst der Motivation

Wie motiviert man Halbwüchsige zu etwas, das sie eigentlich nicht wollen, nämlich Lernen? Heerscharen von Gelehrten zerbrechen sich im forschungsfanatischen Finnland über diese Schlüsselfrage den Kopf. "Bulimisches Lernen" , bei dem Kinder unreflektiert auskotzen, was stur eingetrichtert wurde, hält Kirsti Lonka für das Grundübel. Die Bildungspsychologin tüftelt an ausgeklügelten Tools, die "Digital Natives" zum Büffeln verführen - etwa indem sich Rechenergebnisse per MMS dem Lehrer schicken lassen, der auf Knopfdruck die Erfolgsquote ausrechnen kann. Damit bliebe Schülern die Demütigung erspart, vor der Klasse an der Tafel zu versagen, meint Lonka.

Deshalb trägt noch lange nicht jeder finnische Knirps ein Notebook unterm Arm. Andere Schulen legen Schwerpunkte auf Kunst oder Musik, Jakomäki hat sich eben dem IT-Universum verschrieben. Als "Open Space" definiert Direktorin Ulla-Maija Vähäsarja ihr Reich, "das altmodische Klassenzimmer hat ausgedient, Lernen findet überall statt" . Ausgestattet mit Überwachungsinstrumentarium Orwell'scher Ausmaße schwärmten die Schüler unlängst aus, um minutiös ihren Alltag zu dokumentieren - alles natürlich wissenschaftlich überwacht. Die Lehrer stört es nicht, wenn ihre Schützlinge dabei auch einmal miteinander chatten oder sich im Internet verlieren. Beim Austausch über informelle Kanäle, meint Vähäsarja, "lernen sie genauso viel wie aus einem Buch" .

Den schönsten Raum haben die Kinder zweigeteilt und nach ihrem Gusto umgemodelt. Auf der einen Seite locker platzierte Tische und Sessel in kühlem Blaugrau. Auf der anderen fläzen Schüler in gelborangen Hängematten und roten Polsterecken. "Wir haben viel Freiheit, eigene Ideen umzusetzen" , sagt Vähäsarja. Die Schule hat ihren eigenen Lehrplan entworfen, die Lehrer entscheiden, ob sie Noten verteilen oder nicht - selbstverständlich im Rahmen der nationalen Vorgaben. Killerprüfungen, die über Sein und Nichtsein entscheiden, gäbe es an den Grundschulen nicht, versichert Pisa-Experte Hautamäki. Gerade zwei Prozent der Schüler müssen ein Jahr wiederholen.

Die Schulen können auch Lehrer feuern, und schon der Zugang ist schwer genug. Infolge einer beinharten Auslese vor dem Studium bleiben 90 Prozent der Anwärter auf der Strecke, umso höher ist das Ansehen der Erfolgreichen - ein weiterer Baustein des finnischen Gesamtkunstwerks. Andere Erklärungen: Lutheranisches Arbeitsethos, das rundum akzeptierte Vorschuljahr oder der Zwang zum Englischlernen, weil es kaum Filme auf Finnisch gibt - und die (noch) relativ wenigen Zuwanderer, die das Niveau kaum drückten. "Ja und nein" , antwortet Hautamäki auf die Ausländerthese. Zwar schnitten Finnlands Immigranten bei Pisa etwas schlechter ab als die Alteingesessenen, aber immer noch besser als im Rest der Welt.

Eines ist nicht schuld: das Geld. Ob es an der schlanken Verwaltung oder moderaten Lehrergehältern liegt - Finnland gibt pro Schüler weniger aus als Österreich. (Gerald John aus Helsinki/DER STANDARD, Printausgabe, 26.6.2010)