Lässt man die globalen wissenschaftlichen Diskurse der letzten Jahrzehnte um öffentliche Schulreformen Revue passieren, so sind die Signale nicht ermutigend. Von progressiver, kritischer Seite gibt es vier Botschaften bedeutender Forscher/innen: "school is a lousy place to learn anything in" (Howard Becker), "die Illusion der Chancengleichheit" (Pierre Bourdieu), "tinkering towards utopia" (David Tyack) als Bild für Reformversuche, und schließlich das Diktum, wonach die Reformpädagogik zwar "gut, aber zu teuer für die öffentliche Schule" sei (Diane Ravitch).

Massiv werden Schulreformen heute vor allem zur Steigerung der Effizienz und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit gefordert, gleichzeitig wird gezeigt, dass mit gesteigerter Effizienz auch eine Verbesserung der Gerechtigkeit einhergehen kann - für letzteres steht das gehypte "finnische Beispiel" , das aber eine Ausnahme und nicht die Regel ist.

In Österreich ist für die Erkenntnis, die Schule sei "a lousy place for learning" , kein Soziologe erforderlich, dies ist ein feststehender gesellschaftlicher Interpretationshintergrund, gegen den die Politik vergeblich anzukämpfen versucht: Die Zufriedenheit mit dem Schulwesen ist hoch und der Druck für Veränderungen gleich null.

Die Frage nach der Chancengleichheit wird ernsthaft gar nicht gestellt, da die Meinung vorherrscht, heute gehe ohnehin bereits "jede/r in eine höhere Schule" . Stellt man die Frage doch, wird die Aufmerksamkeit auf den Aspekt der Gleichheit gelenkt, die als Leitmitiv für Reformen abzulehnen sei, da das zu einem "Eintopf" führe, der nicht zu unseren Leibgerichten gehört.

Dieses Argumentationsmuster wirkt auf viele Menschen offenkundig so paralysierend, dass sie die Eintopf-Realität des bestehenden Systems völlig übersehen: Dieses besteht nämlich aus einer Reihe von Eintöpfen, in die die Schüler/innen angeblich nach "ihrer Begabung" sortiert werden. Fragt man dann immer noch weiter, so kommt die Gegenfrage nach dem Unterschied von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit, was uns dann, so wir nicht die Chance auf humanistische Bildung hatten, ganz mundtot macht - wer sie nutzen durfte, hat die Kinder ohnehin in der AHS, und über deren Chancen braucht man nicht zu diskutieren.

Aufgrund der beiden bereits angesprochenen Punkte ist das schulpädagogische "Utopia" ein derartiges Minderheitenthema, dass es für praktische Ansätze in diese Richtung schlicht an "kritischer Masse" fehlt. Sollten ernsthaft welche stattfinden, werden sie totgeschwiegen und müssen im Verborgenen blühen. Ein Beispiel hat Rupert Vierlinger nun im Alter von 80 Jahren als Geschichte der von ihm aufgebauten Gesamtschule in Oberösterreich in einem sehr schönen Buch beschrieben, das zugleich ein überaus realitätsnahes "Sittenbild" der österreichischen Schulpolitik vermittelt. Diese "andere Schule" zeigt, dass es nicht nur in Finnland möglich ist, in einem "Eintopf" , der das gesamte Leistungsspektrum umfasst, erfolgreich und motivierend zu unterrichten. Es beschreibt auch anschaulich die Forschungen über die desaströsen Wirkungen des österreichischen Selektionssystems auf die "Selektierten" und deren Lehrer/innen. Und es zeigt die Perfidie der damaligen Politik, die die Genehmigung an die Auflage gebunden hatte, nicht darüber zu reden - tatsächlich haben sich die Beteiligten so strikt daran gehalten, dass dieses Beispiel bis heute ziemlich unbekannt ist.

Was schließlich die Kostenfrage betrifft, so besteht die Hauptschwierigkeit darin, dass bereits die alten Lernmethoden zu teuer sind, jede Neuerung aufgrund der gegebenen Vollauslastung Mehrarbeit bedeutet und daher noch mehr Kosten mit sich bringt.

Zählebiges "Njet"

Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die Antireformdiskurse, die jeden Reformansatz als "neoliberal" diskreditieren, unter den meisten Beteiligten auf fruchtbaren Boden fallen (außer bei jenen, für die dieses Wort nicht unbedingt ein Schimpfwort ist, die aber gerade deswegen als "verdächtige" Unterstützer gelten).

Was soll man nun also, derart desillusioniert, noch tun? Erstens kann man die Geschichte zu Rate ziehen und wird dabei feststellen, dass etwa von der Beschlussfassung der Schulpflicht bis zu ihrer Durchsetzung ein ganzes Jahrhundert verging - die Mühlen mahlen also langsam. Man kann daher im Sinne der intellektuellen Redlichkeit nur immer wieder geduldig wiederholen, was Sache ist: Das gegenwärtige System ist eine ungerechte Selektionsmaschinerie im Dienst der Reproduktion der privilegierten Eliten. Eine Förderung, die der Selektion nachfolgt, funktioniert nicht. Eine gemeinsame Schule ist eine notwendige Bedingung für die Weiterentwicklung des Schulwesens, wenn auch keine hinreichende. Erst in einem gemeinsamen Eintopf ist Individualisierung wirklich möglich. Das derzeitige System produziert stattdessen eine abgestufte Folge von Eintöpfen, die umso mehr Benachteiligungen schaffen, je weiter es im sozialen Spektrum "nach unten" geht. Zehntausende Jugendliche, primär aus diesem Bereich, treffen sich nach ihrer Schullaufbahn am Förderband arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen.

Zweitens ergibt sich aus der Analyse, dass die mit den bestehenden Strukturen verbundenen Koalitionen und Interessenkonflikte auf politischer Ebene in absehbarer Zeit wohl nicht aufzulösen sind. Ein Ausweg könnte darin bestehen, auf die Professionalität der Lehrenden und ihre Weiterentwicklung zu vertrauen - aber auch diese Hoffnung erscheint angesichts der bürokratischen, arbeitsorganisatorischen und dienstrechtlichen Knebelungen nicht gerade "realistisch" .

Der Bildungsökonom Eric Hanushek hat einmal die Frage gestellt, warum die Veränderung der Sowjetunion eher möglich war als die Veränderung des Schulsystems seines Landes - die österreichische Analogie könnte darin gesehen werden, dass dem damaligen sowjetischen "Njet" leichter beizukommen war als den heutigen "Njets" gegen die Schulreform.

Bleibt nur eins: Weiter für die Reform werben - trotz alledem ... (Lorenz Lassnigg, DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.Juni 2010)