Im selbstgezimmerten Schulgebäude tagt täglich der Rechtsausschuss, Lehrer werden nach einem Jahr vom Kollektiv verlängert - oder nicht

Foto: Almuth Köhler

Endlich er selbst sein: Für den 16-jährigen Aryeh Grossman (re.) wurde das in der Fairhaven-School, "der besten Schule fürs Leben", wahr

Foto: Almuth Köhler

Mark McCaig hat die Fairhaven School vor zwölf Jahren gegründet

Foto: Almuth Köhler

Logan Scannell hat ein Problem. "Wir haben alles probiert", sagt Sharon Markowich, seine Tante. "Er kommt einfach nicht zurecht mit diesen strikten Strukturen, diesem Auswendigpauken von Zeug, das er nicht versteht." Die traditionelle Schule, hat auch Marilyn Scannell erkannt, Logans erziehende Großmutter, ist nichts für ihren Enkel. Er lernt schnell, spielt gern Saxofon, ist klug und aufgeweckt, nur eben kein Muster an Diszi-plin, ein ganz normaler 15-Jähriger in einer ganz normal schwierigen Phase.

Das mit der Disziplin hat man Logan auf drastische Art beizubringen versucht. Von einer katholischen wechselte er auf eine halbmilitärische Schule, deren Absolventen später zur Luftwaffe gehen. Manchmal kam er zu spät zur Messe in der Kapelle, wofür er streng bestraft wurde, mit endlosem Marschieren im Kreis und Arrest in der Einzelzelle. Die Oma, Logans Vormund, hatte genug von drakonischer Härte. Sie war bereit, die radikale Alternative zu wagen - der Junge sowieso.

Die Alternative, das ist die Fairhaven School. Romantisch wie ein Waldhotel liegt sie zwischen hohen Pappeln, in einer Schlucht rauscht ein Bach, ein Paradies vor den Toren von Washington. Gitarrenklänge erklingen, im Computerkabinett spielen sie Videospiele - Dungeons and Dragons.

Es gibt keine Unterrichtsstunden, keine Noten, keine Klassenzimmer, dafür kleine Nischen zum Lernen, in denen Tische, Stühle und bequeme Sofas stehen. Schon ein kurzer Rundgang lässt spüren, was für ein gelassenes Selbstbewusstsein die Schüler haben, eine völlig ungezwungene Art, Ältere um Rat zu fragen.

"Aber glauben Sie nicht, dass wir keine Regeln kennen", sagt Mark McCaig. Wer Popcorn verstreut und das Aufkehren vergisst, wird zu einem "Ästhetikjob" verdonnert, Staubsaugen oder Fensterputzen, je nachdem. Wer rennt, wo man nicht rennen darf, wer raucht oder andere schubst, fliegt von der Schule, meist für einen Tag. Wer stiehlt, muss für immer gehen, es sei denn, er kann die anderen überzeugen, dass der Vertrauensbruch ein einmaliger Ausrutscher war.

Täglich tagt der Rechtsausschuss, das Herzstück Fairhavens, stundenlang wird debattiert. Ein Aushang skizziert, was dort demnächst auf der Agenda steht: Gavin hat ein Fossil im Bach gefunden, darf er es behalten? Einmal in der Woche treffen sich alle - 70 Schüler und sechs Lehrer - zur großen Versammlung. Jeder hat eine Stimme, der fünfjährige Neuzugang wie der Schulgründer. Lehrer werden auf zwölf Monate angestellt, danach bestimmt das Kollektiv, ob sie bleiben dürfen. Und die achttausend Dollar, die Eltern pro Spross fürs Jahr berappen müssen, klingen für amerikanische Verhältnisse bescheiden: An den teuersten Privatschulen ist locker das Dreifache fällig.

McCaig, ein bärtiger Hüne, hat Fairhaven vor zwölf Jahren ins Leben gerufen, gemeinsam mit Kim, seiner Gattin. Er hat selber mitgezimmert am ersten Gebäude, einer rustikalen Blockhütte. Pate stand die Sud-bury Valley School in der Nähe von Boston, 1968 gegründet von Daniel Greenberg, einem Physiker, der den Leitspruch prägte: "Wir beginnen mit der Freiheit, persönlicher Freiheit und Respekt für individuelle Rechte." In McCaigs launiger Kurzbiografie steht, dass er viel über Vögel und Haifischzähne weiß. Ausgestattet mit einem Harvard-Diplom, unterrichtete er lange an normalen Schulen. Den Ausschlag für den Bruch gab die Erfahrung in der eigenen Familie. Ein Neffe, hochintelligent und dabei hyperaktiv, wurde mit Tabletten vollgestopft, um sich im Klassenzimmer konzentrieren zu können. "Völlig verrückt."

Spielen als Lernmethode

Am Treppengeländer kündigt ein DIN-A4-Blatt einen Kurs an, kreatives Schreiben. Die Initiative ging von Schülern aus, die fanden, dass sie nun genug am Computer gespielt hatten und endlich lernen müssten, wie man gute Aufsätze schreibt. McCaig vermittelt es ihnen - wer will, kann mitmachen, verschiedene Altersstufen. Seine Philosophie beginnt bei Aristoteles. "Menschen streben von Natur aus nach Wissen", zitiert er den antiken Griechen.

Menschen lernen am besten, wenn sie allein entscheiden, was sie lernen, lautet die Sudbury-Maxime. Und: Spielen ist die erste Lernmethode. Wer spielt, wird klüger. Wozu also Kindern Formeln eintrichtern, die sie bald wieder vergessen? Der herkömmliche Schulbetrieb, gibt McCaig zu bedenken, sei für die Ökonomie der Fabrik gemacht. "Was wir heute ansteuern, ist die kreative Ökonomie. Schnelles Reagieren, flexible Karrieren. Wer arbeitet denn heute noch in einer Fabrik?"

Fairhaven-Schüler werden gern genommen an Universitäten: Aufnahmetests und Gespräche ersetzen das formale Zeugnis. Dennoch, es gibt auch welche, die Fairhaven vorzeitig verlassen, und sei es nur, weil sie in einer guten Schulmannschaft Basketball spielen wollen. Es gibt Eltern, die irgendwann die Angst packt, dass sich ihr Kind seine Zukunft vermasselt. Es gibt gute Nachrichten von Ehemaligen. Einer schreibt einen Roman, ein Zweiter ist Skateboard-Profi, eine Dritte betreibt eine Galerie, nachdem sie in Chicago Kunst studiert hat.

Aryeh Grossman, schwarzer Hut, karibisch buntes Hemd, ist ein unverwechselbarer Typ. Ab der Mittelstufe kam er nicht mehr klar mit dem Druck einer traditionellen Lehranstalt. Heute, mit 16, sagt er, dass er endlich er selbst sein kann. Bevor er nächstes Jahr seinen Abschluss macht, muss er aufschreiben, wie er sich sein Leben vorstellt, beruflich und privat. Seine Freunde werden kritisch nachfragen, Aryeh wird sein Konzept verteidigen müssen, vielleicht auch manches korrigieren, das alles im großen Kreis. Es ist, sagt er, die beste Schule fürs Leben, die er sich vorstellen kann. (Frank Herrmann aus Upper Marlboro/DER STANDARD, Printausgabe, 26./27. Juni 2010)