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Cem Atan ist der beste Fußballspieler der Welt. Oder zumindest sieht es gut vier Minuten lang so aus. Auf der Video-Börse Youtube präsentiert sich der 24-jährige Stürmer "schnell", "trickreich", "durchsetzungsstark", ausgestattet mit "dem Auge für den besser postierten Nebenmann" und dem "unbedingten Zug zum Tor". Atan, so scheint es dem Betrachter des 4,09 Minuten langen Videos, sollte auf den Checklisten aller Fußball-Scouts einen Highscore erreichen und in einer Liga mit Messi, Tévez und Ronaldo spielen.

Aber der offensive Mittelfeldspieler verpasst die WM (er ist schließlich österreichischer Nationaler), sein Marktwert beträgt nur 550.000 Euro (transfermarkt.de) und er ist beim SV Mattersburg aktiv. Atan mag in der Fußballprovinz spielen, sein Videoporträt aber hat die Production Values und Taktung eines Hollywood-Actionfilms. Das Video ist mit treibenden HipHop-Beats unterlegt, in einer atemlosen Montage folgt Trick auf Torerfolg auf Trick, der alternierende Einsatz von Zeitlupe und Zeitlupe verleiht auch dem schlampigsten Dribbling eine enorme Dynamik.

Werbung und Vintage-Videos

Das Medienzentrum in Kapstadt sendet zurzeit die Bilder der Fußball-WM in alle Welt. Die eigentliche Sendezentrale des Weltfußballs aber sind Videobörsen wie Youtube oder Vimeo, auf denen sich für den Suchbegriff "Soccer" mehrere Millionen Filme finden. Da ist der epische Werbespot der der Regisseur Alejandro González Iñárritu ("Babel") für Nike gedreht hat, da sind Vintage-Videos von vergangenen Championaten und Spielberichte aus der Kreisliga, die offenbar mit dem Handy aufgenommen wurden, da ist das Video von Cem Atan, mit dem sich dieser offensichtlich bei anderen Vereinen bewirbt (eingestellt hat es die türkische Agentur Galatasaray Scouting), und unzählige Fan-Filme, mit denen Fans ihren Idolen huldigen oder ihre eigene Sportgeschichte schreiben.

Die Fußballfilme sind kleine Kunstwerke, die nicht nur die Stärken eines Spielers hervorheben, sondern zeigen, wie sich die visuelle Kultur des Fußballs durch neue Medien verändert. Youtube wird oft als Wurlitzer-Jukebox der Popkultur bezeichnet, weil dort beinahe jedes Video und jeder Song und jeder Werbespot verfügbar ist. Youtube ist aber auch die Bilder-Schatztruhe des Fußballs - oder auf welchem anderen Kanal könnte man sonst innerhalb von wenigen Minuten das Jahrhundertspiel zwischen Deutschland und Italien im Jahr 1970 sehen, dann Ball-Akrobatik an der Copacabana, dann eine Zusammenfassung der Champions League, dann die besten zehn Tore von Cristiano Ronaldo, Flugkopfbälle, Freistoßhämmer, Alleingänge. Mehr als 15 Millionen Menschen haben diesen Film bereits gesehen.

Fußball in Endlosschleife

Im Internet beginnt die Sportschau nicht am Samstag um 18.30 Uhr, sondern läuft in einer 24-Stunden-Endlosschleife. Auf Youtube und obskuren Filesharing-Börsen, die seltsamerweise häufig im Irak stationiert sind, findet man von beinahe jedem Fußballspiel, das seit Erfindung der Kamera angepfiffen wurde, auch Bilder und Aufnahmen. Fußball-Videos kommen in unendlichen vielen Aggregatsformen vor, als HD-Mitschnitt des aktuellen Topspiels, als digitalisierte VHS-Kassette oder verpixelte Handyaufnahme vom dritten Tribünenrang. Natürlich liegen die Rechte in den meisten Fällen bei TV-Anstalten oder Veranstaltern wie der Deutschen Fußball Liga (DFL).

Anders als Hollywood-Studios, die ihre Filme und Serien erfolgreich aus dem Youtube-Kosmos löschen lassen, scheinen die Fußballmedienunternehmer dem Bildersturm jedoch nicht gewachsen. Der FC Bayern überlegte sich zwar vor vier Jahren einmal öffentlich, Youtube zu verklagen, aber von der Initiative hat man nichts mehr gehört. Und so ist der Fan zum Programmdirektor der Sportschau geworden, legt mit der Maus den Spielplan fest, sieht sich Klassiker an, schaut in der zweiten ungarischen Liga vorbei oder greift selbst zu Schnitt-Software und macht sich sein eigenes Bild vom "most beautiful game".

Die Medienrevolution verändert auch die Machtverhältnisse in der Fußballwelt. Fans müssen sich nicht länger von Experten ("Gurus") und Journalisten sagen lassen, welches Spiel, welches Tor, welche Mannschaft man niemals vergessen darf, sondern basteln selbst an Listen mit Titeln wie "Die 50 besten Tore" oder "5 Dinger, die auch meine Oma gemacht hätte". Youtube ist das kollektive Gedächtnis der Fußballgemeinde, in den Kommentaren wird verhandelt, was von einem Spieler nach einer Karriere übrigbleibt.

Helden aus dem Netz

Früher sammelten Fußballfans die Panini-Klebebildchen. Die Spieler blickten streng und statisch aus dem Bilderrahmen heraus, das Format sah aus wie eine Mischung aus Passfoto und einem Porträt eines niederländischen Meisters. Im 21. Jahrhundert aber sehen sich die Fans die Bilder ihrer Helden nicht mehr ehrfürchtig an, sondern laden sie aus dem Netz runter, schneiden Spielsequenzen um und fügen Musik hinzu. Heraus kommt eine Sportschau auf Speed, Fußball-Clips, die sich zur Liveübertragung eines Spiels verhalten wie ein Video von Michel Gondry zu den Aufnahmen einer Überwachungskamera. Die Videos werden für eine Generation von Fans produziert, die sich vor der Playstation daran gewöhnt hat, dass ein Spiel nur wenige Minuten dauert und dass eine simple Tastenkombination genügt, um einen perfekten Fallrückzieher auszuführen, komplett mit Soundeffekten und Feuerwerk.

Der Regisseur Jean-Luc Godard hat einmal gesagt, man müsse das Spiel in seinem Verlauf zeigen, nicht nur den Zweikampf und das Tor, sondern die davor folgende Passstafetten und Positionswechsel. Die Fußball-Regisseure missachten das Diktum des Altmeisters und orientieren sich stattdessen an der Dramaturgie einer Best-of-Sendung, zeigen zum Beispiel alle 48 Tore von Lionel Messi aus der Saison '09/10 in 90 Sekunden. Das Fußballspiel verändert sich im Video- Stream, da gibt es kein Abtasten der Mannschaften mehr, keine Langeweile und kaum Fehler, Immer nur: Messi, Messi, Tor, Tor. Bei fast allen Videos dieser Machart unterstreichen HipHop-, Rock-'n'-Roll- und Elektro-Tracks die Dynamik der Bewegungen und die Emotion des Spiels, die starken Beine und verzerrten Gesichter. Manchmal verwenden die Regisseure sogar Audio-Effekte, um die Wirkung der Videos zu unterstreichen. In einer Hommage an das brasilianischen Abwehrtalent David Luis (Benfica Lissabon) wird ein beeindruckender Sprint mit einem Motorgeräusch unterlegt - der Spieler als Hochleistungsmaschine.

"Man darf YouTube nicht vertrauen"

Aber wie hoch ist der epistemologische Wert der Videos? Was hat der reale Spieler mit der flinken Figur auf dem Bildschirm zu tun? Louis van Gaal, der große Philosoph (und Trainer des FC Bayern München), hat kürzlich gesagt: "Man darf Youtube nicht vertrauen." Klicks und Kommentare in sozialen Netzwerken können nicht nur aus einer unbekannten Schülerband ein Hitwunder machen (Arctic Monkeys et al), sondern auch einen unbekannten Spieler zum begehrten Objekt. Die Scouts und Trainer der großen Vereine arbeiten schon seit Jahren mit Bergen von DVDs und Videokassetten, um die interessantesten Talente aufzuspüren.

Heute hat jeder Fan eine vergleichbare Datenbank zur Verfügung, und es verwundert nicht, dass Fans ihre Beiträge in Fach-Foren wie transfermarkt.de immer häufiger mit Videos kombinieren und in den Weiten des Webs nach der idealen Verstärkung für ihr Team suchen. Vor einiger Zeit verliebten sich einige Fans des brasilianischen Vereins Flamengo Rio de Janeiro auf Youtube derart in die Künste des 14-jährigen Maycon Santana aus der Provinzstadt Adustina, dass sie die Vereinsführung öffentlich unter Druck setzten, den Jungen unter Vertrag zu nehmen. Mit Erfolg. Eine Zeitung fand sogleich den passenden Künstlernamen für den Star der neuen Art: Youtubinho!

Im 21. Jahrhundert sehen sich die Fans die Bilder ihrer Helden nicht mehr ehrfürchtig an, sondern laden sie aus dem Netz runter, schneiden Spiel-sequenzen um und fügen Musik hinzu. (Tobias Moorstedt/ DER STANDARD RONDO, 26. Juni 2010)