Vršac/Wien - Ein Tisch, zwei Stühle, ein Kleiderständer, ein altertümliches Radio: Ein paar Requisiten müssen reichen für die Aufführung von "Helvers Nacht" , das Zweipersonenstück eines polnischen Autors, der sich - als Hommage an Ingmar Bergman - Ingmar Villquist nennt. Es geht um einen vom Faschismus faszinierten Behinderten, der bald selbst unter die Stiefel derer gerät, die ihm das Exerzieren beibrachten. Und es geht um seine Adoptivmutter, die ihr erstes Kind einfach vor einer Klinik ablegte, überfordert von dessen Behinderung.
In Sofia, besonders aber im ungarischen Debrecen, war die Thematik angesichts der salonfähig gewordenen extremen Rechten von trauriger Aktualität, erinnert sich Andreas Kosek, Regisseur und Teatro-Caprile-Mitbegründer: "Wie werden Behinderte heute betrachtet? Wie wurde mit Behinderten früher umgesprungen, im Nationalsozialismus oder auch schon lange vorher? Der Sozialdarwinismus, das Ausgrenzen aller ‚Minusvarianten‘ oder wie auch immer blöd man das bezeichnen will. Dieses Streben nach dem noch vollwertigeren Menschen, das hat mich sehr interessiert."
Im Vorjahr reiste Caprile mit "Helvers Nacht" nach Bosnien, heuer zu Gastspielen in Bulgarien, Ungarn und Serbien. Man spielt auf Deutsch - in Schulen, Kulturzentren oder altehrwürdigen, wenn auch ramponierten Theatern. So wie im Mai in Vršac in der Vojvodina. Zu Zeiten der Monarchie hieß das Städtchen noch Werschetz, die meisten der 14.000 Bewohner waren Deutsche. Heute leben hier, im serbisch-rumänischen Grenzgebiet, nur noch ein paar hundert Deutsche. Dennoch stieß das Gastspiel auf einiges Interesse. Gespielt wurde im zur Hälfte gefüllten Theater "Sterija" , einem Saal aus dem 18. Jahrhundert mit viel Stuck, Plüsch, Staub und Lustern.
Lange ist es her, dass im "Sterija" - benannt nach dem berühmten Dramatiker und Sohn der Stadt Jovan Sterija Popović - Schauspieler auf der Bühne standen, die Deutsch sprechen. Schuldirektor Petr Joksimović, einer der Besucher, kann sich nicht erinnern, wie lange: "Für mich war es ein wundersames Gefühl, ein sehr berührendes Gefühl, dass überhaupt auf Deutsch etwas im Theater gespielt wurde." Als er noch selbst Deutsch unterrichtete, fügt er lachend hinzu, habe er seinen Schülern immer erzählt, wie wichtig die Sprache sei, schon wegen der wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland und Österreich. Denn aus Amerika kämen doch nur Coca-Cola und die Bomben der Nato.
Englisch ist heute erste Fremdsprache in Vršac, als Zweitsprache kann Deutsch ab der 5. Klasse gewählt werden. Doch nur Schüler, die wirklich Spaß an Fremdsprachen haben, wählen Deutsch, sagt Lehrer Elmar Bata. Deutsch gilt als schwierig. Auch Bata, der gleich alle seine Schüler mit in die Vorstellung gebracht hat, ist dankbar für "Helvers Nacht" : "Über Satellit, Tonbänder und Bücher kann man die aktuelle deutsche Sprache nicht erlernen und den Schülern bekannt machen. Uns Deutschlehrern fehlt der Kontakt mit der lebendigen Sprache" , klagt Bata, einer von 13 Deutschlehrern in Vršac.
Am Schluss des Stückes bekommen die Schauspieler artigen Applaus und einen Blumenstrauß. Die Schüler nehmen kichernd Reißaus. Ob sie etwas verstanden haben von "Helvers Nacht" , darauf mögen sie nicht antworten. Das Ehepaar Stanojević hat dagegen alles verstanden. Mirko Stanojević ist Donauschwabe und in Vršac geboren. Er lebt seit über 50 Jahren in Frankfurt, verbringt aber jeden Sommer in der alten Heimat. Das Stück habe ihm sehr gut gefallen. Sein Freund Konstantin Spajić, ein Serbe aus Vršac, konstatiert, dass die deutsche Minderheit von Vršac "in Richtung Friedhof" gehe - junge Leute gebe es nicht.
Nach der Vorstellung lädt das Theater zum bescheidenen Umtrunk. Milenko Gvozdić, stellvertretender Theaterleiter, schildert die Folgen der Wirtschaftskrise, die besonders die Kultur, das Theater getroffen habe, und hört den Erzählungen der Gäste aus Wien zu.
Teatro Caprile - das sind der gebürtige Wiener und Theaterwissenschaftler Andreas Kosek, der Ethnologe und Theaterenthusiast Mark Német und die Vorarlbergerin Katharina Grabher, die es von der Sozialarbeit zur Schauspielerei zog. Caprile, rätoromanisch für Ziegenstall, bringt zeitgenössische Stücke mitteleuropäischer Autoren auf die Bühne: den Serben Ottó Tolnai, den Polen Ingmar Villquist, den Ungarn György Schweida. In Planung ist die Inszenierung eines Stückes von Dragan Velikić, dem früheren Botschafter Serbiens in Österreich, der nach seinem diplomatischen Intermezzo wieder als Schriftsteller in Belgrad lebt.
Caprile nimmt den Balkan als kulturellen Echoraum für gesellschaftskritisches deutschsprachiges Theater. "Unser Deutsch, das österreichische Deutsch, wurde immer sehr gelobt" , sagt Kosek. "Wir gehen in die Provinz, wo andere Theatergruppen angeblich überhaupt nicht hinfahren." (Alexander Musik, DER STANDARD/Printausagbe, 29.06.2010)